Drama | Lettland/Litauen/Belgien/Frankreich 2019 | 108 Minuten

Regie: Juris Kursietis

Ein Arbeitsmigrant aus Lettland beginnt in einer belgischen Fleischfabrik, wird aber wenig später wegen einer falschen Anschuldigung gefeuert. Seine aussichtslose Situation treibt ihn in die Arme eines polnischen Kleinkriminellen, der ihn zunehmend zum Leibeigenen macht. Mit dokumentarischer Ästhetik folgt der düstere Film dem unaufhaltsamen Abstieg seines passiven Helden. Die improvisiert wirkenden Szenen vermitteln dabei anschaulich die Demütigungen des Protagonisten. Allerdings wirken die Wandlung vom Sozialdrama zum Thriller wie auch der Einsatz religiöser Symbolik unausgegoren. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
OLEG
Produktionsland
Lettland/Litauen/Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Iota Productions/Tasse Film/Umedia
Regie
Juris Kursietis
Buch
Juris Kursietis · Liga Celma-Kursiete · Kaspars Odins
Kamera
Bogumil Godfrejow
Musik
Jonas Jurkunas
Schnitt
Matyas Veress
Darsteller
Walentin Nowopolski (Oleg) · Dawid Ogrodnik (Andrzej) · Anna Próchniak (Malgosia) · Guna Zarina (Zita) · Adam Szyszkowski (Krzysztof)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Der Passionsweg eines Arbeitsmigranten aus Lettland, der in Belgien unter die Räder zu kommen droht.

Diskussion

Es ist Nacht, als das Flugzeug von Oleg (Valentin Novopolskij) in Belgien landet, und so richtig hell wird es während des gesamten Films nicht. Der wortkarge lettische Metzger mit den stechend blauen Augen ist in den Westen gekommen, um zu arbeiten. Mit wuchtigen Handgriffen zerteilt er im gleißenden Neonlicht einer Fleischfabrik tote Schweine. Er ist einer WG mit mehreren Landsmännern untergekommen, in der es kaum eine Privatsphäre gibt. Im Supermarkt überlegen die Mitbewohner, wie sie ihr geringes Gehalt umsetzen sollen – und entscheiden sich schließlich für eine große Palette Dosenbier.

Aus Arbeitsmigration wird Leibeigenschaft

Der Alltag, den Juris Kursietis in „Oleg“ zeichnet, ist prekär, aber nicht hoffnungslos. Unter den Menschen scheint es eine gewisse Solidarität zu geben, und die Arbeit ist zwar hart, bietet aber auch Sicherheit. Wie fragil die Situation des passiven Titelhelden tatsächlich ist, offenbart sich, als er wegen einer falschen Anschuldigung gekündigt wird. Einen neuen Job zu finden, ist mit seinem Status fast unmöglich, und eine Rückkehr nach Lettland wegen diverser Schulden ausgeschlossen. Schon unter seinen Kollegen wirkte der sanfte, immer etwas unsichere Oleg so, als würde er nicht richtig dazugehören. Ohne Job und Freunde erscheint er in den weitwinkelig verzerrten Handkamerabildern nun buchstäblich ausgeliefert.

Auftritt: Andrzej (Dawid Ogrodnik). Der geschwätzige Pole ist einem vom ersten Moment an unsympathisch. Alles wirkt falsch an ihm: seine angeberische, übergriffig kumpelhafte Art, das aufgesetzte Lachen, seine blumigen Versprechungen von Geld und einem besseren Leben. Aus Mangel an Alternativen beschließt Oleg aber, seine Lügen zu glauben. Gemeinsam mit anderen Arbeitsmigranten soll er das Haus von Andrzej renovieren. Die anfänglich familiäre Stimmung täuscht jedoch darüber hinweg, dass Oleg immer mehr zum Leibeigenen eines unberechenbaren Sadisten wird. Dabei verliert er nicht nur seinen Pass und sein Handy, sondern auch zunehmend seine Würde.

Demütigungen als Überlebensprinzip

Den Passionsweg des unmündigen Protagonisten kündigt sich in der ersten Szene an. Man sieht eine vermutlich allegorisch gemeinte Schneelandschaft, in der Oleg im Eis einbricht, während er im Off über das Lamm Gottes sinniert. Sein prophezeiter Abstieg muss damit nur noch erfüllt werden. Mit seinem dokumentarischen Look versucht der Film, das Vorbestimmte beiläufig und spontan wirken zu lassen.

Als Oleg etwa einen Fluchtversuch nach Brüssel unternimmt, schummelt er sich hungrig auf den Empfang einer Theatergruppe. Eine etwa ältere Frau (Guna Zariņa) schmeißt sich dort an ihn heran, weil sie ihn für einen Schauspieler hält, und verwickelt ihn in drögen Small Talk. Die bildungsbürgerlich abgehobene Art der Frau soll dabei etwas arg plakativ einen Kontrast zu Olegs Leid markieren, und es ist von Anfang an klar, dass diese Begegnung kein gutes Ende nehmen wird. Allerdings entwickelt sich aus diesem scheinbar improvisierten Moment durchaus eine eigene Spannung. Was uns hier in quälender Ausführlichkeit vermittelt wird, ist die Scham, die jemand verspürt, für den Demütigungen zum Überlebensprinzip geworden sind.

Etwas unentschlossen wirkt der Film jedoch, wenn es darum geht, wer oder was in erster Linie für Olegs Leid verantwortlich ist. Nachdem sich die Inszenierung zunächst auf ein ausbeuterisches System konzentriert, das einem Unprivilegierten wenig Chancen lässt, verlagert sich die Aufmerksamkeit später auf eine klassische Thriller-Dynamik, bei der Andrzej zum unbezwingbaren Bösewicht aufgebaut wird.

Christliche Metaphorik, die nicht recht passen will

Unbefriedigend wirkt dieser Kurswechsel weniger, weil sich systemische und individuelle Unterdrückung nicht bedingen könnten, sondern weil die Rolle der beharrlich eingesetzten religiöse Metaphorik dabei unklar bleibt. Immer wieder sieht man zu Choralklängen symbolische Bilder des ertrinkenden Oleg. Einmal besucht der Protagonist sogar zufällig die berühmte St.-Bavo-Kathedrale, wo er sich den Genter Altar der Van-Eyck-Brüder ansieht, insbesondere die darauf abgebildete Anbetung des Lamm Gottes. Ungewiss bei diesen archaischen Verweisen bleibt, für was Oleg sich überhaupt opfert. Sein Schicksal ist weder selbst gewählt, noch an eine konkrete Ursache gebunden, sondern in erster Linie einer Verkettung unglücklicher Ereignisse geschuldet. Und auch für die Folgen seines Opfers interessiert sich der Film nicht. Weil der Einsatz des biblischen Motivs zwar dominant, aber nicht zu Ende gedacht ist, wird damit letztlich nichts verdichtet oder sichtbar gemacht, sondern lediglich ein Schleier des bedeutungsvoll Erhabenen über die Geschehnisse gelegt.

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