Red Post on Escher Street

Komödie | Japan 2020 | 148 Minuten

Regie: Sion Sono

Eine große Anzahl von Laien und Nachwuchsschauspielerinnen bewirbt sich um eine Hauptrolle im neuen Film eines gefeierten Jungregisseurs. In Folge des zwangsweisen Scheiterns fast aller Bewerberinnen entwickeln sich das Casting und der Filmdreh vom Ringen um eine Hauptrolle zu einem filmischen Kollektivprojekt, in dem sich die Statisten mit mitreißender Kraft eine Stimme verschaffen. Der Aufstand der Namenlosen gleicht dabei einer erratisch kompilierten Mischung, der zwischen Gesellschaftskontroversen, Exzess und Blödelei nie die ekstatische Energie ausgeht. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ESCHER DORI NO AKAI POSUTO
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
AMG Ent./Hikoki Films Int.
Regie
Sion Sono
Buch
Sion Sono
Kamera
Masaya Suzuki
Schnitt
Sion Sono
Darsteller
Môgan Maara (Katako) · Sen Fujimaru (Yabuki Yasuko) · Tatsuhiro Yamaoka (Tadashi Kobayashi) · Canon Nawata (Hirona Matsumoto) · Matsuri Kohira (Kiriko)
Länge
148 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Komödie
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Wildes Potpourri um ein aus dem Ruder laufendes Casting eines umjubelten Nachwuchsregisseurs, bei dem sich die abgelehnten Statisten zu einer aufmüpfigen Masse formieren.

Diskussion

Wie ein schlanker, hochgewachsener Hydrant sieht der Briefkasten aus, der an allen Ecken der Escher Street zu finden ist. Er ist das Zentrum des Films, und nicht nur dem Namen nach, der nicht von ungefähr auf M.C. Escher anspielt, ein Labyrinth aus großen Hoffnungen, Lebensträumen, versuchten Neuanfängen und routinierten Wiedereinstiegen. Nahezu jede Figur des Films (es sind deutlich mehr als ein Dutzend) hält für einen Moment vor diesem Postkasten inne, sendet ein kleines Gebet gen Himmel und schickt eine Bewerbung ab, die sie auf ein neues Leben hoffen lässt.

Ein Filmprojekt des gefeierten und begehrten Nachwuchsregisseurs Tadashi Kobayashi (Tatsuhiro Yamaoka) verspricht die Träume der jungen, überwiegend weiblichen Bewerberinnen zu erfüllen. Gesucht werden nämlich nicht nur gestandene Profis, sondern auch Laien und Nachwuchsdarstellerinnen.

Niemand denkt ans Scheitern

Um die geht es dem überproduktiven Dauerfilmer Sion Sono in seinem jüngsten Werk. Wie in den perspektivischen Täuschungen, Vexierbildern und unmöglichen Figurendarstellungen des niederländischen Künstlers Escher zieht auch Sono in „Red Post on Escher Street“ vor- und zurückgreifende Schleifen um die Einzel- und Kollektivschicksale der Bewerberinnen. Dabei kommen, wie so oft in der mittlerweile fast 50 Langfilme umfassenden Filmografie, Gesellschaftskontroversen, Exzess und Blödelei zu einer ekstatischen Mischung zusammen.

Der Casting-Aufruf, dem die Protagonistinnen folgen, verspricht erst einmal nichts dergleichen, sondern allein die winzige Chance auf eine der beiden Hauptrollen. Die Essenz des Films liegt darin, dass genau das eigentlich niemanden schert. Alle rennen mit voller Kraft gegen die Chancenlosigkeit an. Die junge Kiriko (Matsuri Kohira) spielt nicht nur gegen den Widerstand der Produzenten und die erdrückend geringe Erfolgswahrscheinlichkeit, sondern auch gegen den Widerstand der eigenen Eltern an. Während die Widerstände von allen Seiten auf sie einprasseln, rattert das Mädchen stoisch und bis zur Perfektion die Dialogzeilen runter.

Kiriko ist eine der auffälligsten unter den zahllosen Protagonistinnen, vielleicht nur noch überboten von Yasuko (Sen Fujimaru), deren Geschichte damit beginnt, als sie in der Blutlache ihres toten Vaters erwacht und von diesem Trauma ausgehend eine unbändige, nie versiegende Energie über den Film ausschüttet. Mit dieser tritt auch sie beim Casting an, schert sich gar nicht erst um den Text, sondern überwalzt Szenenpartner und Zuschauer mit der Kraft des erschütterten Bewusstseins.

Stars oder Sexobjekte

Am Ende dieser hingebungsvollen oder exzessiven Auftritte von Kiriko und Yasuko steht wie auch bei den zahllosen naiven, weniger professionellen, weniger ernstgemeinten Versuchen, die sich dazugesellen, eine Absage. Nicht von Regisseur Kobayashi, der ohnehin eher ein Statist des eigenen Filmprojekts ist, sondern von den Produzenten. Die wollen im Film entweder Stars sehen oder Frauen, mit denen sie geschlafen haben. Der Film sieht das ebenso wenig ein wie viele der Statistinnen und teilt damit nicht nur Seitenhiebe gegen die Sexisten der japanischen Filmlandschaft aus, sondern legt den Grundstein für eine Eruption ins Chaos der Aufmüpfigkeit.

Das ganz auf die Hauptrollen zugeschnittene Casting eskaliert sukzessive zum filmischen Kollektivprojekt. Wer im fiktiven Film als Hauptrolle abgelehnt und zur Statistin gemacht wird, steigt im wirklichen Film zum Teil der kollektiven Hauptrolle auf. Sogar einen professionellen Statisten gibt es hier. In der eigenen Home-Video-Abteilung seiner Wohnung darf er stolz seine Filmografie präsentieren: Hunderte von Klassikern, Meisterwerken und Kultfilmen aller Genres, in denen er bis zu 15 Sekunden zu sehen ist. Für das aktuelle Projekt von Kobayashi drängt sich der Randfiguren-Veteran dann so aufdringlich Richtung Kamera, dass diverse Takes abgebrochen werden müssen.

Einen Plan gibt es nicht

In diesen Momenten, also immer dann, wenn für die Talentierten wie für die Talentlosen das Ende der Fahnenstange erreicht ist, reißt der Film im Laufe der zweieinhalbstündigen Laufzeit riesige Löcher in die Hierarchien und Machtstrukturen der Filmproduktion. Langsam baut sich so eine erratische Energie zwischen degradierten Hauptdarstellern, Kobayashi-Fanclubs und Berufsstatisten auf.

Der Film springt wild umher, um sie an allen Stellen einzufangen, stellt unzählige namentlich vor, lässt die Kamera von einer Straßenecke zur nächsten hetzen, um hier ein Privatgespräch abzugreifen, dort einen Familienzwist zu beobachten oder dem panisch davonrennenden Regisseur im Sprint nachzusetzen. Bevor dann die erste Szene im Kasten ist, platzt die Escher Street aus allen Nähten, und die Statisten stehen in offener Rebellion gegen das eigene Schattendasein. Einen Plan gibt es dafür nicht, nur den absoluten Willen zur exzessiven Energieausschüttung – und eine Kamera, die all die unmöglichen Vorgänge irgendwie einzufangen vermag.

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