Der Wilde Wald - Natur Natur sein lassen

Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 91 Minuten

Regie: Lisa Eder

Seit 1970 wird im grenzüberschreitenden Nationalpark Bayerischer Wald die Natur sich selbst überlassen. Was lange Zeit heftig umstritten war, ist inzwischen ein weithin anerkanntes Konzept, das in zahlreichen Ländern Nachahmer fand. Der Dokumentarfilm vereint in nahezu perfekter Balance Emotionen und Fakten über das größte geschützte Waldgebiet Europas und zeigt die reiche Tier- und Pflanzenwelt der Landschaft. Die Kraft der Natur steht dabei gegen den Kontrollzwang des Menschen, der sich in dieser Region mit der Rolle des Beobachtenden und Lernenden zufriedengeben muss. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Lisa Eder Film Prod./Nationalpark Bayerischer Wald
Regie
Lisa Eder
Buch
Lisa Eder
Kamera
Tobias Corts
Musik
Sebastian Fillenberg
Schnitt
Georg Michael Fischer
Länge
91 Minuten
Kinostart
07.10.2021
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Ein Dokumentarfilm über die Geschichte des Nationalparks Bayerischer Wald, der mit eindrucksvollen Aufnahmen der Tier- und Pflanzenwelt daran appelliert, mehr Natur zuzulassen.

Diskussion

Der Blick gleitet über Waldboden – ein Weg wird gesucht, gleichsam symbolisch für das Beziehungsgeflecht zwischen dem Menschen und der ungezähmten Natur, die ihre eigenen Gesetze hat. Hier muss sich der Mensch anpassen. Ein Mann mit einem Rucksack läuft in der Dämmerung auf einem Berggrat, sorgfältig achtet er auf seine Schritte – sein Bild erscheint als winziger Schattenriss vor dem Abendhimmel… So stimmungsvoll beginnt Lisa Eders Dokumentarfilm über den Bayerischen Wald, in dem die Wildnis nicht nur in ihrer manchmal beinahe unirdischen Schönheit gezeigt wird, sondern auch als Ort, wo der Mensch lernen kann und lernen muss.

Faszinierende Bilder machen die Reize der jeweiligen Jahreszeiten sichtbar: Wie erstarrte Riesen stehen schneebedeckte Bäume auf den Höhen, scheinbar unnahbar in ihrer frostigen Hülle, Schnee und Eis formen merkwürdige Muster, doch bald löst sich in den sprudelnden Bächen das Eis, die Natur erwacht – Insekten brummen über Frühjahrsblüten, die Vogelwelt wird tschilpend und zwitschernd wieder munter, ein Specht klopft eifrig, es wird genistet und gebrütet. Und bald erobern die ersten Tierkinder ihre Welt, viele seltene Spezies sind dabei: Junge Luchse tollen mit der Mutter herum, kleine Käuzchen strecken sich nach der Atzung. Ein Wolf schnürt durchs Gelände, der Auerhahn breitet sein Gefieder aus, Hirsche stehen am Waldrand, ein Elch weidet auf der Wiese.

Wenn der Mensch geht, kommen die Tiere

Der Nationalpark ist wie eine Arche Noah: Wenn der Mensch geht, kommen die Tiere. Von den drei großen Beutegreifern Luchs, Wolf und Bär sind zwei wieder zurückgekehrt, und vielleicht ist der Bayerische Wald inzwischen sogar wieder „Bärenerwartungsland“?

Zum natürlichen Zyklus der Jahreszeiten gehören sowohl die Pflanzen – darunter viele verschiedene Pilzarten – in unüberschaubarer Vielfalt als auch große und kleine Tiere, von der Ameise bis zum Elch, von der Raupe bis zum Geier. Auch der Borkenkäfer zählt dazu, dessen Aktivitäten über viele Jahrzehnte lediglich einseitig betrachtet wurden. Er galt als Schädling, der die Waldbestände zerstört. Doch jedes einzelne Tier, jede einzelne Pflanze erfüllt eine Aufgabe im Kreislauf des Lebens, auch die Borkenkäfer: Sie helfen dabei, den Wald zu verjüngen und können indirekt zur Biodiversität beitragen.

Parallel zu den betörenden Naturaufnahmen aus dem Bayerischen Wald erzählt Lisa Eder die hochinteressante Geschichte des Nationalparks, der sich seit mehr als 50 Jahren ohne menschliche Einwirkungen entwickeln darf. In den ersten Jahren nach der Gründung wurde dieses Vorhaben nicht nur misstrauisch, sondern teilweise geradezu feindselig beobachtet. Muss die Natur nicht kontrolliert und beaufsichtigt werden, um Schäden zu vermeiden? Besonders die schweren Orkane um 1990, die extreme Zerstörungen im Waldgebiet anrichteten, führten zu Protestaktionen, die in Demonstrationen und Bürgerinitiativen gegen den Naturpark mündeten. Es schien vielen unvorstellbar, dass es überhaupt keine Reaktionen auf die Sturmschäden geben sollte: keine Räumaktionen, keine Wiederaufforstungen…

Ein anerkanntes Konzept

Tatsächlich passierte genau das, was passieren sollte: Die Natur half sich selbst, der Wald reparierte die Schäden, und was sich nicht reparieren ließ, wurde in den Kreislauf des Lebens eingebaut, so wie die hohlen Baumstümpfe, in denen Eulen brüten und ihre Jungen aufziehen. Heute wird das Konzept des Nationalparks überall anerkannt, und nicht nur das: Es dient als Vorbild für andere Länder. Denn die großenteils hausgemachten Probleme im Umgang mit der Natur gibt es überall. Nicht einmal ein Prozent der Fläche Europas ist frei von menschlichem Einfluss.

Anhand von TV-Bildern und Originalaufnahmen aus den frühen Jahren des Nationalparks, in Interviews mit Beteiligten, WissenschaftlerInnen und Gästen und durch Statements bekannter Persönlichkeiten wie Jane Goodall liefert der Film zahlreiche Informationen, die gelegentlich durch Inserts verstärkt werden. Dafür verzichtet sie auf einen erklärenden Kommentar. Für die Naturaufnahmen greifen Lisa Eder und ihre ausgezeichneten Kameraleute, angeführt von Tobias Corts, ganz tief in die Trickkiste der Naturdokumentationen, mit spektakulären Makrobildern, Superzeitlupe und -zeitraffer und mit faszinierenden Drohnenaufnahmen. Da schwebt die Kamera in Augenhöhe über dem Boden oder sie umkreist die schneebedeckten Pfähle abgebrochener Fichten, die geheimnisvolle Gesichter formen.

Die Geräusche der Natur, vom Gemurmel der Bäche über das Klopfen der Spechte bis zum Heulen des Wintersturms begleiten den Film, unterstützt von einem Soundtrack, der – gespielt auf klassischen Instrumenten – die Stimmung des Films mitnimmt und verstärkt, ebenso wie die handwerklich beeindruckende Montage, in der häufig Information und Meditation, Beobachtung und Interpretation kombiniert werden.

Ein Appell, mehr Natur zuzulassen

Lisa Eder verfolgt ein klares Ziel: Ihr Film dokumentiert nicht nur die Geschichte und den Zustand des Nationalparks, er ist vor allem ein aufrüttelnder Appell dafür, mehr Natur zuzulassen, den wilden Wald als Ort der Bildung und der Lehre für den Menschen zu begreifen. Um diese Absicht zu untermauern – der Zweck heiligt die Mittel – nutzt Eder nicht nur künstlerische und handwerkliche Mittel, sondern sie wagt sich auch an große Emotionen, die den Film zum Kinoerlebnis machen. Dabei geht es, dramaturgisch gesehen, weniger um einzelne Geschichten, sondern mehr ums große Ganze: der Mensch als Teil der Natur, nicht als ihr Kontrolleur oder Wächter. Diese Sehnsucht und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft erfüllen die Dokumentation von der ersten bis zur letzten Sekunde, manchmal an der Grenze zum Kitsch in Bild und Ton, doch immer noch gerade rechtzeitig abgebremst, bevor es zu gefühlig wird.

Vielleicht ist es eine besondere Art von Heimweh, das hier seinen Ausdruck findet, ebenfalls deutlich durch den gelegentlich kontemplativen Charakter der Bilder, der zusätzlich Emotionen freisetzt. Als Vermittler dieser geradezu heimatlichen Verbundenheit und Vertrautheit zwischen Mensch und Natur fungiert einer der Protagonisten: Der Fotograf Bastian Kalous, der Mann auf dem Berggrat, wird vom anfänglichen Gast des Nationalparks zum ständigen Begleiter des Kinopublikums auf dieser romantischen Wanderung zur Entdeckung der Wildnis – seine Präsenz ist im Grunde eine freundliche Einladung, den Urwald (denn das ist er inzwischen) selbst zu erforschen.

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