Drama | Deutschland 2021 | 95 Minuten

Regie: Florian Hoffmann

Ein kurdischstämmiger Lehrer, der mit einer deutschen Journalistin in Berlin zusammenlebt, glaubt in einem Video aus dem Südosten der Türkei seine totgeglaubte Schwester zu erkennen. Als die beiden von kurdischen Aktivisten mehr erfahren wollen, sollen sie im Gegenzug Bilder der Gewalt in den Medien unterbringen, was nur durch Manipulation der Aufnahmen gelingt. Das feinfühlig inszenierte Porträt eines integrierten Migranten, der schmerzhaft an seine Wurzeln erinnert wird, sensibilisiert trotz Überzeichnungen für die Heimatsuche von Menschen zwischen den Kulturen. Zudem zeigt der Film die Problematik medialer Kriegsberichterstattung auf. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Chromosom Film/ZDF
Regie
Florian Hoffmann
Buch
Florian Hoffmann
Kamera
Carmen Treichl
Schnitt
Marco Rottig
Darsteller
Zübeyde Bulut (Senem) · Hadi Khanjanpour (Khalil) · Kristin Suckow (Leyla) · Aziz Çapkurt (Hamid) · Vedat Erincin (Cihan)
Länge
95 Minuten
Kinostart
15.12.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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TMDB

Porträt eines türkischen Kurden in Berlin, der in einem Video seine totgeglaubte Schwester als kurdische Untergrundkämpferin zu erkennen glaubt.

Diskussion

„Die Bilder brauchen einen anderen Geruch. Dann werden sie auch gesehen. Vertrau mir!“, sagt die ehrgeizige Jungjournalistin Leyla zu ihrem kurdisch-stämmigen Freund, als sie kriegerische Aufnahmen aus der von türkischen Soldaten abgeriegelten Kurdenstadt Cizre mit Gewehrsalven und Artillerielärm unterlegt, um sie spektakulärer zu machen.

Die Macht der Bilder und die Leichtigkeit ihrer Manipulation mit moderner Technik ist ein Schlüsselthema in dem Spielfilmdebüt des 1987 in Berlin geborenen Regisseurs Florian Hoffmann. Welchen Kriegsbildern können wir vertrauen und welchen nicht? Warum wird über einige Kriege berichtet und über andere nicht? Ein Thema, das gerade in Zeiten von Fake News, „Lügenpresse“-Parolen und massenhafter Falschinformation durch soziale Medien besonders aktuell wirkt.

Khalil hat sich als Grundschullehrer in Berlin gut eingelebt. Die Wohnung teilt er sich mit der jungen Journalistin Leyla. Die bringt eines Tages Videos mit Gewaltszenen aus seiner Heimatstadt Cizre im kurdisch geprägten Osten der Türkei nach Hause. Khalil soll ihr helfen, die Echtheit der Aufnahmen zu prüfen. Als der Lehrer unter kurdischen Kämpferinnen die Stimme seiner Schwester Senem zu hören glaubt, die er für tot gehalten hat, gerät er aus der Balance. Khalil bittet die kurdische Exilgemeinde, den Kontakt zu Senem herzustellen. Doch Hamid, ein kurdischer Aktivist, verlangt von ihm, die schockierenden Aufnahmen aus Cizre mit Hilfe von Leyla in die deutschen Medien zu bringen.

Manipulation macht die Bilder dramatischer

Ein erster Versuch Leylas bleibt erfolglos. Die Redaktion traut den Bildern aus dem Untergrund nicht und hält andere Konflikte für wichtiger. Doch dann manipuliert Leyla mit Khalils Hilfe andere Videos so, dass sie dramatischer wirken. Endlich machen die Übergriffe der türkischen Armee Schlagzeilen, endlich berichten deutsche Fernsehsender, endlich diskutieren deutsche Politiker über die Ereignisse. Während Hamid auf Khalis Drängen eine Skype-Verbindung ins Kurdengebiet herstellt, eskalieren die Konflikte zwischen Türken und Kurden in Berlin. Sie erfassen sogar Khalils Schulklasse, in der seine Nichte Melda angefeindet wird.

In seinem zweiten langen Film nach dem Dokumentarfilm „Arlette. Mut ist ein Muskel“ (2015) stützt sich Hoffmann auf intensive eigene Recherchen in Cizre. Nachdem er festgestellt hatte, dass die türkischen Behörden jede Berichterstattung über die verdeckte Militäroperation verhinderten und das Internet lahmlegten, reiste er mit Journalisten und Menschenrechtsaktivisten nach Cizre. Ihm wurden Handy-Aufnahmen zugespielt, in denen die Bewohner die Menschenrechtsverletzungen während der monatelangen Ausgangssperre festhielten. Zudem recherchierte er in mehreren Medienhäusern zum Umgang mit Kriegsbildern. Viele seiner Erkenntnisse flossen in den Film ein, der anschaulich macht, wie schnell Kriege in den Medien auftauchen und verschwinden.

Hoffmann schildert prägnant, wie leichtfertig die erfolgshungrige Leyla ihren journalistischen Wertekanon über Bord wirft, um ihre erste große Story zu landen, und wie kurdische Propagandisten mit Hilfe Sozialer Medien und Handy-Videos versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Den stärksten Eindruck hinterlassen jedoch die immer wieder eingebauten authentischen, oft verwackelten Bewegtbildsequenzen, die 2015 und 2016 von Einwohnern in Cizre aufgenommen wurden, einer Stadt, die schon oft Gefechte zwischen türkischen Soldaten und kurdischen Rebellen gesehen hat.

Heimat, Integration und Identität

„Stille Post“ ist eine vielschichtige Reflexion über Heimat, Integration und Identität. Khalil scheint als einfühlsamer Grundschullehrer mit deutscher Lebensgefährtin perfekt integriert zu sein. Mit den politischen Aktivisten des türkischen Kulturvereins hat er wenig am Hut. Seine kurdischen Wurzeln entdeckt er erst wieder durch das vermeintliche Video mit Senem. Unversehens gerät er zwischen die Fronten, zwischen Hamid, der den bewaffneten kurdischen Widerstand unterstützt, und seinen kriegsmüden Onkel Cihan, der ihm als Kind einst das Leben rettete und ihm nun rät: „Lass dich von diesem Krieg nicht anstecken!“ Als Khalil sogar erwägt, selbst nach Cizre zu gehen, warnt er ihn: „Wenn du mit dem Kopf durch die Wand willst, musst du wissen, was dahinter ist.“

Der gebürtige Iraner Hadi Khanjanpour, der den Erfahrungskomplex der Emigration als kleiner Junge mit der Hauptfigur teilt, versteht es souverän, mit kleinen Gesten und zurückhaltender Körpersprache sichtbar zu machen, wie die Fassade der Assimilation bröckelt.

Obwohl die Inszenierung über weite Strecken einen szenischen Minimalismus pflegt und in ruhigen Bildfolgen den schleichenden Entfremdungsprozess des Protagonisten einfängt, schießt sie im Streben um emotionale Beglaubigung der Erschütterung an einigen Stellen übers Ziel hinaus. Etwa wenn der verzweifelte Khalil auf dem Mittelstreifen einer mehrspurigen Straße entlangläuft oder wenn er sich die Kleider vom Oberkörper reißt und in die Kälte stellt, um seinem Onkel zu beweisen, dass er kein Schwächling sei.

An manchen Stellen ist auch die Medienkritik zu simpel oder zu plakativ geraten, sei es, dass Leyla zu schnell zur skrupellosen Fälscherin mutiert, um einen Karrieresprung zu schaffen, sei es, dass die Suche nach spektakulären, wirkmächtigen Bildern im Fernsehjournalismus allzu übertrieben dargestellt wird. „Stille Post“ tut sich bisweilen etwas schwer, den breit angelegten Erzählstoff zu bewältigen, bietet aber reichlich Denkanstöße, wenn es um die Grenzen der Integration von Migranten und die Mitnahme politischer Konflikte in Aufnahmeländer geht. Angesicht des Ukraine-Krieges stellt er zudem kritische Fragen nach der angemessenen Berichterstattung der Medien über Kriege und über die Abstumpfungstendenz in den Köpfen vieler Mediennutzer angesichts der Fülle von Gewaltdarstellungen.

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