Drama | Schweiz 2021 | Minuten

Regie: Sabine Boss

Eine Familien-Dramaserie um eine Schweizer Bauerfamilie, die im Umkreis von Zürich einen kleinen, nach traditionellen Methoden bewirtschafteten Bauernhof betreibt, der wie viele seinesgleichen um seine Existenz kämpfen muss. Nach dem Selbstmord des Vaters, der als einziger um die finanzielle Schieflage des verschuldeten Hofes wusste, müssen seine Frau, seine Mutter, seine Tochter und seine zwei Söhnen aushandeln, wie es mit dem Betrieb weitergeht, was wegen der unterschiedlichen Temperamente, Lebenswege und Vorstellungen aller Beteiligten sowie einer lange eingespielten Unfähigkeit, offen miteinander zu reden, zu einer emotionalen Tour de force wird. Ein gutes Ensemble und ein Drehbuch, das eine süffige Familiensaga mit realitätsnahen, aktuellen Konfliktszenarien rund um die Probleme und Zukunftsaussichten landwirtschaftlicher Betriebe verbindet, sorgen für packende Unterhaltung. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
NEUMATT
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
SRF/Zodiac Pictures
Regie
Sabine Boss · Pierre Monnard
Buch
Marianne Wendt · Christian Schiller · Dominik Locher · Ruth Rehmet · Piet Baumgartner
Kamera
Pietro Zuercher
Musik
Michael Künstle · Matteo Pagamici
Schnitt
Martin Arpagaus · Sophie Blöchlinger · Mike Schaerer · Andri Erdin · Adrian von Sparr
Darsteller
Julian Koechlin (Michi Wyss) · Rachel Braunschweig (Katharina Wyss) · Jérôme Humm (Lorenz Wyss) · Sophie Hutter (Sarah Wyss) · Anouk Petri (Angelina Wyss)
Länge
Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Serie

Schweizer Drama-Serie um eine Bauernfamilie im Zürcher Umland, die nach dem Selbstmord des Vaters darum ringt, wie es mit dem hochverschuldeten Hof weitergehen soll.

Diskussion

Die SRF-Serie „Neumatt“ erzählt fiktiv, aber mit Bezug auf gegenwärtige Wirklichkeiten aus dem Leben der Bauernfamilie Wyss, die einen Hof im Umland von Zürich betreibt. Neumatt ist seit Generationen im Besitz der Familie. Er ist an Fläche nicht sonderlich groß und wird in herkömmlicher Methode betrieben. Es gibt auf dem Hof ein Hühnergehege, im Stall stehen fünfzehn bis zwanzig Kühe, auf den Feldern finden sich ein paar Obstbäume. Man lebt vor allem von der Milch.

Betrieben wird der Hof vom Ehepaar Kurt (Paul Kaiser) und Katharina Wyss (Rachel Braunschweig) und seinem jüngsten Sohn Lorenz (Jérôme Humm), der die landwirtschaftliche Schule besucht und dem Hof dereinst übernehmen soll. Ebenfalls auf dem Hof lebt und arbeitet, obwohl sie nicht mehr die Jüngste ist, Kurts Mutter Trudi (Marlise Fischer). Katharinas und Kurts ältester Sohn, Michi (Julian Koechlin), hat sich dagegen von der Familie abgenabelt und Wirtschaft studiert. Er ist schwul und wohnt in Zürich; dort macht er Karriere in einer Consultingfirma und betreut unter anderem auch eine auf Molkereiprodukte spezialisierte Firma. Michis und Lorenz’ Schwester Sarah (Sophie Hutter) wohnt im Dorf und hat eine halbwüchsige Tochter.

Eine Familientragödie offenbart die Schieflage des Bauernhofs

So weit ist die Familie Wyss eine ganz normale Schweizer Bauernfamilie. Sie ist für den Betrieb des Hofes personell nicht schlecht aufgestellt und für die Zukunft eigentlich gut gewappnet. So scheint es zumindest. Was einzig der mit der Administration betraute Kurt weiß, ist, dass Neumatt verschuldet ist und die traditionelle Weise, in der man den Hof betreibt, nicht reicht, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.

Die erste Folge „Nachfolge“ heftet sich an seine Fersen. Kurt verpasst es an einem frühen Morgen, Lorenz bei der Geburt eines Kalbes zu unterstützen, gratuliert diesem danach aber zu seiner professionellen Hebammenarbeit und schenkt ihm das Kalb. Im Verlauf des weiteren Tages sucht Kurt den Kontakt zu allen Mitgliedern seiner Familie. Was ihm mehr oder weniger gut gelingt: Kurt – einnehmend gespielt von Paul Kaiser – ist kein gesprächiger Mann und auch kein resoluter Patriarch. Er wirkt sanftmütig, frisst die Probleme lieber in sich hinein, als dass er andere damit belastet. Als er Michi anruft, lässt er diesen das Gespräch beenden, bevor er ihm mitgeteilt hat, was ihm auf dem Herzen liegt. Bei Sarah im Fitnessclub sperbert er nur kurz durchs Fenster und geht wieder davon, als er sieht, dass seine Tochter mit einem Kunden beschäftigt ist. Ob Kurt ahnt oder gar weiß, dass seine Frau Katharina eine Affäre mit dem Molkereibetreiber Martin hat, bleibt offen; beim Zubettgehen am Abend legt er ihr aber, wie er es in früheren Jahren offensichtlich öfters tat, sanft die Hand auf den Nacken; eine zärtliche Geste. Und bald schon nur noch Erinnerung. Denn Kurt nimmt sich das Leben.

Zwischen Heimatverbundenheit und Aufbruchslust

Auf Neumatt liegen die Dinge nicht nur in finanzieller Hinsicht im Argen, sondern auch in zwischenmenschlicher, das ahnen die Zuschauer bald. Sie sind denn auch um einiges weniger als die Familie Wyss überrascht von Kurts Abgang, den Katharina postwendend als Unfall kaschiert. In der smoothen Exposition, die geschickt Kommendes andeutet und einen latenten Hauch von Krimi und Geheimnis in sich trägt, sind nicht nur das Familiendrama, die persönlichen Probleme und Geschichten der Personen angelegt, sondern auch die großen Themen, auf die die Serie aufbaut. Es sind dies, in Schlagworten gefasst, die Spannungsfelder von Tradition und Moderne, Land und Stadt, Heimatverbundenheit und Aufbruchslust, in welcher die Familie Wyss ihre Zukunft und den zukünftigen Betrieb des Hofes auszurichten hat. Und es ist die emotionale Labilität, mit welcher jedes Familienmitglied nach dem unerwarteten Abgang des männlichen Familienoberhaupts zu kämpfen hat.

Es ist zuvorderst Michis Zerrissenheit zwischen dem schicken Saus-und-Braus-Leben, das er als erfolgreicher Firmenberater in der Stadt führt, und dem Zuhause-Gefühl, das ihn mit dem heimatlichen Hof verbindet. Seine Zerrissenheit auch zwischen seiner in Zürich offen gelebten Homosexualität und seinen zwischendurch noch immer aufflackernden romantischen Gefühlen für seine erste große Jugendliebe im Dorf, um die keines der Familienmitglieder, aber auch sonst niemand im Dorf weiß. Es gibt einen Abschiedsbrief, in dem Kurt seinen ältesten Sohn Michi inständig bittet, Lorenz bei der Weiterführung des Hofes tatkräftig zu unterstützen.

Jedes Familienmitglied kämpft mit Konflikten

Wichtig sind außerdem die Spannungen zwischen Trudi und Katharina, die von nicht bäuerischer Herkunft ist und deswegen in Trudis Augen auch nach 30 Jahren als Bäuerin noch alles falsch macht. Und es ist Katharinas Sehnsucht auch nach einem anderen, freieren Leben, vielleicht in der Stadt, vielleicht an der Seite eines anderen Mannes. Eines Mannes, der mit ihr mehr teilt als bloß das Bett und das mit viel Arbeit verbundene Bauernleben. Ihre Musikalität etwa, ihre Sehnsucht zu singen, eventuell auch vor Publikum.

Eine Rolle spielt außerdem auch Sarahs Situation als alleinstehende Mutter und ihre permanente Finanzknappheit, die so weit geht, dass sie ihrer Tochter nicht einmal die Schulreise berappen kann. Und schließlich Jungbauer Lorenz und seine Persönlichkeit, seine genuine Empathie für seine Tiere, die ihn intuitiv verstehen lässt, was diese brauchen, und ihn auch in kilometerweiter Entfernung niederdrückt, wenn auf dem Hof eines der Kälber stirbt. Daran gekoppelte seine Unfähigkeit, sich auf trockene Lernstoffe zu konzentrieren, in einer Stresssituation Gelerntes abzurufen, so dass er die Abschlussprüfung der landwirtschaftlichen Schule auch beim dritten Mal vermasselt.

Ausloten von Perspektiven und Möglichkeiten

Dabei wäre sein Diplom wichtig, um den Hof weiterhin führen zu dürfen – und darum dreht sich die ganze erste „Neumatt“-Staffel. Wie man sich neuorganisiert, jetzt, wo das Oberhaupt der Familie plötzlich nicht mehr da ist. Welche Perspektiven und Möglichkeiten es gibt. Was nicht möglich ist und was nicht in Frage kommt. Und weil nicht nur Kurt, sondern die ganze Familie Wyss es nicht gewohnt ist, Probleme in einem Gespräch gemeinsam am Tisch zu lösen, läuft bis zum zweitletzten Augenblick immer alles schief oder kommt anders als geplant.

Dies nicht nur, weil sich grundsätzlich nie alle einig sind, was für den Hof, für die Familie, für jeden persönlich das Beste wäre, sondern vor allem, weil es grundsätzlich keine Option ist, den Hof wie bisher in herkömmlicher, körperlich verschleißender Weise weiterzuführen. Also versucht man auf Michis Betreiben hin umzustellen und zu modernisieren.

Im Ausspinnen dieser Konflikte bedient „Neumatt“ ziemlich alle Register, die ein Familiendrama emotional aufregend und im Bereich der Beziehungsgeflechte spannend machen. Gleichzeitig steckt in dem unter Regie von Sabine Boss und Pierre Monnard entstandenen Mehrteiler auch eine saftige Prise Komödie. Etwa in dem wiederholt als Gruppe auftretenden, und damit an die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie erinnernden Verband der lokalen Milchbauern. Der steht einmal für die Familie Wyss ein, stemmt sich das nächste Mal aber gegen deren Anliegen, wirft Michi das eine Mal vor, die Bauern zu verraten, macht ihn bei der nächsten Protestaktion aber zu ihrem An- und Wortführer und sorgt damit für einiges komische Tohuwabohu.

Ein starkes Ensemble trägt die Serie

Ebenfalls auf der komischen Ebene bewegt sich Ursula Halter (Judith Hofmann), die Gattin von Katharinas Lover Martin, in ihrer Funktion als Gemeindepräsidentin. Ursula möchte den Neumatt-Hof für die Gemeinde erstehen und dort ein Verteilzentrum einrichten. Sie agiert wetterwendisch gerissen und politisch intrigant und setzt die Familie Wyss massiv unter Druck. Judith Hofmann spielt die Figur energiegeladen-energisch. Grundsätzlich ist „Neumatt“ ausnehmend gut besetzt. Rachel Braunschweig überzeugt in der Rolle Katharinas durch eine Bodenständigkeit und Sensibilität, mit der sie schon in „Spagat“ brillierte. Julian Köchlin spielt sich in der Rolle des Michi als innerlich tief verunsicherter junger Mann souverän durch die breite Palette von charmantem Verführer, gerissenem Verkäufer, arrogantem Aufschneider, zärtlichem Bruder und verlorenem Sohn. Auch Sophie Hutter, Joel Basman und Roeland Wiesnekker sind solide besetzt. Der heimliche Star von „Neumatt“ aber ist Jérôme Humm, der in der Rolle von Lorenz mit gefühlsstarkem Spiel überzeugt und dabei mit den tierischen Darstellern vor der Kamera mindestens so gut kann wie mit menschlichen.

„Neumatt“ bietet viel fürs Gemüt, ist zugleich in seinen sich an der Realität orientierenden Konfliktszenarien aber ungeschönt. Das ist nicht immer einfach mitanzusehen, aber oft aufwühlend und meist sehr packend. Und die Themen, die „Neumatt“ auf die derzeitige Situation in der Schweiz verweisend anklingen lässt, wie etwa die Auswirkung globaler Veränderungen marktwirtschaftlicher Verhältnisse auf das lokale Gewerbe, die Rasanz des technischen Fortschritts, der im wahrsten Sinn der Wortes Bauernopfer fordert, sowie das in der Serie nur leise angedeutete Umdenken im Bereich von Umweltschutz und Bioethik – sind lange nicht nur in Helvetien, sondern weltweit von brennender Aktualität.

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