Dokumentarfilm | Italien/Frankreich/USA/Katar/Mexiko/Spanien 2021 | 100 Minuten

Regie: Yuri Ancarani

Auf der venezianischen Laguneninsel Sant’Erasmo hat sich eine Gruppe junger Männer mit Leib und Seele ihren hochfrisierten Speedbooten verschrieben. Einer von ihnen ist der 24-jährige Daniele, der im Kampf um Bestmarken jedes Risiko einzugehen bereit ist. In der Sprache eines hochstilisierten Dokumentarismus wirft der Film einen Blick auf die Initiationsriten einer extrem maskulin geprägten Jugendkultur, die zwischen ziellosem Hedonismus und psychedelischen Rauschzuständen durch ein geisterhaftes Dasein führt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ATLANTIDE
Produktionsland
Italien/Frankreich/USA/Katar/Mexiko/Spanien
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Luxbox/Alejibre Prod./Unbranded Pict./Mirfilm/Rai Cinema/Dugong Films
Regie
Yuri Ancarani
Buch
Yuri Ancarani
Kamera
Yuri Ancarani · Mauro Chiarello · Thomas Pilani
Musik
Lorenzo Senni · Sick Luke · Francesco Fantini
Schnitt
Yuri Ancarani · Yves Beloniak
Darsteller
Daniele Barison · Maila Dabalà · Bianka Berényi · Alberto Tedesco · Jacopo Torcellan
Länge
100 Minuten
Kinostart
08.09.2022
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Drama
Externe Links
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Quasidokumentarischer Film über italienische Jugendliche und ihre extrem maskulin geprägten Initiationsriten.

Diskussion

Für die jüngeren Teenager auf der Laguneninsel Sant‘Erasmo ist die Vaporetto-Station Punta Vela eine perfekte Badeanstalt. Sie haben das kleine Wartehäuschen vollständig in Beschlag genommen. Hier verbringen sie ihre Sommertage. Ihr Vergnügen ist dabei noch kindlich und voller Unschuld. Ganz im Gegensatz zum Zeitvertreib der jungen Männer. In frisierten Speedbooten, die wie Gummibälle über die Wellen hüpfen, rasen sie auf den venezianischen Gewässern herum. Die mit bunten LED-Lichtern und Boxen ausgestatteten Barchinos sind ihr Zuhause, ihre Disco, ihr Fetisch und ihre Bühne. Tödliche Unfälle wie etwa Kollisionen mit umhertreibenden Wasserwegmarken, sogenannten Bricolas, tragen zur Aura bei. „Wer langsam fährt, fährt in den Tod. Wer rast, kommt weit“, heißt eine gegen alle Vernunft gedrehte Regel.

Es fehlt der passende Propeller

Daniele, ein junger Mann mit kantigen Gesichtszügen und Nacken-Tattoo, schaut sehnsüchtig auf die in einen Holzpfahl geritzte Bestenliste. Sein ganzes Begehren richtet sich darauf, auf einer Bricola irgendwann einmal seine eigenen Initialen zu sehen. 85 Kilometer schnell sind die gefährlichen Maschinen. Seine „Maila“, benannt nach Danieles etwas phlegmatischer Freundin, kommt an diese magische Zahl nicht annähernd heran. Es fehlt an dem richtigen Propeller.

Der faszinierte Blick des italienischen Filmemachers und Videokünstlers Yuri Ancarani gilt den Initiationsriten einer männlich geprägten Jugendkultur, die sich bei Venedig-Besuchen allenfalls aus weiter Ferne beobachten lässt. Sant’Erasmo, die größte Insel in der Lagune, ist eigentlich für seine zarten Artischocken bekannt. Am Anfang sieht man Daniele auch etwas lustlos auf einem Acker mit Stauden herumschaufeln, doch seine Augen wandern immer wieder wie magnetisch zum Wasser. Der alte Bauer schüttelt ratlos den Kopf: „Ihr werdet euch noch umbringen mit diesen Speedbooten“.

Kurze Hose, Undercut & Tattoos

Über vier Jahre und in unmittelbarer Nähe zu der Gemeinschaft hat Ancarani die Geschichte entwickelt. Ein Drehbuch gab es zunächst nicht; die eher spärlichen Dialoge sind der Alltagssprache der Protagonisten entnommen. „Atlantide“ folgt dem jugendlichen Rudel bei seinen Touren durch die Lagunen. Das ohrenbetäubende Gewummer der „Trap Music“ ist allgegenwärtig und beschallt auf der Insel San Francesco del Deserto auch die Franziskanermönche hinter den Klostermauern beim Unkrautzupfen. Der Blick der Kamera ist ganz auf die Bewegungen und Posen der jungen Männer fixiert – und auf eine Körperlichkeit, die selbst zum Zeichen geworden ist. Die durchtrainierten Oberkörper sind von der Sonne gebräunt, die kurze Hose sitzt locker, Undercut und Tattoos sind Teil der Uniform.

Der wortkarge, vor sich hinbrütende Daniele steht ein bisschen abseits der Gruppe. Er gehört nicht so recht dazu und fischt auch mal eine halbe Nacht lang leere Plastikflaschen aus dem Wasser. Er sei kein Typ zum Kuscheln und Knutschen, bekennt Maila einmal mit einer Mischung aus Bedauern und Verständnis. Eher kultiviert er das Pathos des einsamen Mannes: „Ich lasse mich von niemandem verarschen. Ich habe einen Namen und will respektiert werden“. Seine Freundin pflichtet ihm bei. Die jungen Mädchen sind in der machistischen Barchino-Welt vor allem Zuschauerinnen und stille Bewunderinnen – oder wunderschöne Fantasiegestalten, die beim ekstatischen Sex auf dem Bug imaginiert werden.

„Atlantide“ gibt dem Lebensgefühl der jungen Männer allen Raum. Der filmische Fokus bleibt dabei ganz auf deren Obsession gerichtet. Im stilistischen Überschuss findet der Film eine Sprache für die Fantasiewelten der Jungs und das zu viel an Testosteron. Wenn ihre über das Wasser zischende Boote sprudelnde Fontänen hinter sich herziehen, kokettieren die Bilder sogar mit dem hedonistischen Flair der Serie „Miami Vice“. Elektrobeat, großmäuliger Hip-Hop – „Du machst deinen Scheiß, aber meiner ist besser“ – und symphonische Klänge vereinen sich zu einem satten Soundteppich.

So mitreißend wie hypnotisch

Die Monumentalisierung, die Ancarani betreibt, ist mitreißend und hypnotisch. Mitunter wirkt sie aber auch ein wenig selbstverliebt. Während das Selbstbild der Männer völlig unangetastet bleibt, lässt zumindest Maila so etwas wie ein „echtes“ Leben durchschimmern. Die Schule hat sie geschmissen; nach der Trennung von Daniele fehlt ihr jede Zukunftsperspektive.

Als Daniele einen Propeller klaut und damit endgültig ins Abseits gerät, wirft „Atlantide“ die letzten Reste des dokumentarischen Realismus über Bord, um sich traumähnlichen Atmosphären hinzugeben. Nach einer Passage im rötlichen Abendlicht übernimmt die Nacht – und der psychedelische Noir. Im farbigen Licht der Bootscheinwerfer verwandelt sich Venedig in eine Traumwelt, mythisch, verwunschen und labyrinthisch. Vielleicht ist es aber auch schon das Totenreich.

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