Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 93 Minuten

Regie: Dieu Hao Do

Als im April 1975 die letzten US-Soldaten aus Vietnam abrückten und eineinhalb Millionen Einwohner vor dem kommunistischen Regime flohen, musste auch die chinesische Minderheit im Land eine neue Heimat suchen. Die Familie des Filmemachers Dieu Hao Do zerstreute sich in der Folge über drei Kontinente. Auch etliche Jahrzehnte später herrscht zwischen ihnen Funkstille. Der in Deutschland geborene Dokumentarist erforscht ihre Zersplitterung im Spiegel von Erzählungen über den Umgang mit generationsübergreifenden Traumata. Seine persönliche, mitunter aber auch etwas unübersichtliche Beschäftigung mit dem Schicksal der Exilanten wird neben den Gesprächen durch Archiv- und Fotomaterialien abgerundet. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Hanfgarn & Ufer Filmproduktion/ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Dieu Hao Do
Buch
Dieu Hao Do
Kamera
Florian Mag
Musik
Delphine Malausséna
Schnitt
Franziska Köppel · Werner Bednarz · Torsten Striegnitz
Länge
93 Minuten
Kinostart
15.02.2024
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm eines chinesisch-stämmigen Regisseurs, dessen Familie als Minderheit in Vietnam lebte, nach der Machtergreifung der Kommunisten aber floh und heute auf der ganzen Welt verstreut ist.

Diskussion

Familie kann man sie sich nicht aussuchen. So könnte der aus Niedersachsen stammende Regisseur Dieu Hao Do nach Ende der Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm „Hao are you“ geseufzt haben, in dem er versucht, der Zerstrittenheit in seiner eigenen Sippe auf den Grund zu gehen. Die stammt aus Saigon, gehörte aber der chinesisch-kantonesischen Minderheit in Südvietnam an. Seine Großeltern mütterlicherseits hatten sieben Kinder. Davon lebt nur noch der sogenannte Onkel 2 – in der kantonesischen Tradition werden Onkel und Tanten nach Alter durchnummeriert – in Vietnam. Die restlichen Geschwister von Haos Mutter inklusive ihr selbst sind nach Deutschland, die USA oder Hongkong geflüchtet und sprechen seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander.

Ein gutes Gedächtnis für Verfehlungen

Warum das so ist, will der 1986 geborene Filmemacher herausfinden. Er fängt mit der Geschichte seiner Eltern an. Als seine Mutter seinen Vater kennenlernte, war dieser bereits verheiratet, verließ für sie aber später seine erste Familie. Eltern und Geschwister der Mutter verurteilten die Verbindung als unmoralisch. Im Laufe des Films zeigt sich, dass viele Familienmitglieder ein gutes Gedächtnis haben, wenn es darum geht, die Verfehlungen der anderen zu benennen. Dennoch fragt sich der Regisseur, ob die Zerwürfnisse innerhalb der Familie nicht primär durch den seit 1975 herrschenden Kommunismus und die daraus folgenden Traumata der Flucht zustande gekommen seien.

So erfährt man einiges über das nach dem Krieg in Vietnam entstandene Chaos und den Übergang zu einem politischen System, in dem Privateigentum als verpönt galt. Die relativ wohlhabenden Chinesen gerieten als vermeintliche Vertreter des Kapitalismus besonders ins Visier der neuen kommunistischen Machthaber. Haos Familie – die Eltern waren Tuchhändler, Haos Vater Reisgroßhändler – wurde verhört, enteignet und hatte bald nur noch die Flucht im Sinn. Der erste gemeinsame Fluchtversuch von Kleiner Tante und Onkel 3 scheiterte prompt. Beide wurden in ein Umerziehungslager geschickt und zu etlichen Monaten Zwangsarbeit verurteilt. Zahlreiche Mitglieder der chinesischen Minderheit wurden aufs Land umgesiedelt und mussten auf den Feldern schuften.

In Vietnam wie ein Tourist

Die Geschichte der Familie wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Hao reist mit seiner Kamera nach Asien und in die USA, um Tanten und Onkel persönlich zu sprechen. Zu ihm akzeptieren sie den Kontakt, zu seiner Mutter dagegen nicht. So sieht man neben Archivaufnahmen auch heutige Bilder von der Metropole Saigon, dessen Straßenbild vor allem von Motorradfahrern mit Kegelhüten geprägt ist, und die Hao mit 19 Jahren zum ersten Mal besuchte. Besonders familiäre Gefühle kamen bei ihm damals nicht auf: Er fühlte sich wie ein Tourist. Etliche Jahre später besucht er dort Onkel 2, den einzigen, der in Vietnam geblieben ist. Er hat sich als Heiratsvermittler ein kleines Vermögen aufgebaut.

Anderen Familienmitgliedern ist es weniger gut ergangen. So hat der noch vor 1975 nach Hongkong ausgewanderte Onkel 1 sein durch ein Restaurant-Business erwirtschaftetes Kapital verloren. Wenn die in Los Angeles lebende älteste Tante über mangelnde Bildung, ihre vermeintliche Hässlichkeit sowie ihre Armut klagt, offenbaren sich endgültig gewisse Werte in der Familie, die Zuschauern bedenklich erscheinen mögen. Offensichtlich herrschen dort unausgesprochene Hierarchien und spielt Materielles eine große Rolle. Jene, die weniger reüssiert haben, fühlen sich benachteiligt. Irgendwann wird es auch um das angeblich ungerecht aufgeteilte Erbe innerhalb der Familie gehen.

Zersplitterung in Folge der Flucht

Letzteres ist in Familien auf der ganzen Welt ein Streitpunkt. Bei Haos Familie wird allerdings noch ein Mangel an Zuneigung seitens der Eltern erwähnt, der sich auf die Beziehung der Kinder untereinander übertragen habe. Natürlich spielt auch die Zersplitterung der Familie in Folge der Flucht eine Rolle. Denn in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren gelangen die Fluchtversuche. Die Onkel und Tanten, aber auch die Eltern, wurden zu „Boat People“, trieben tage- oder wochenlang auf überfüllten kleinen Schiffen im Meer herum, bevor sie von Rettungsschiffen wie der Cap Anamur aufgefangen wurden.

Der Regisseur rollt seine Geschichte Schritt für Schritt auf, stellt sich und seinen Onkel und Tanten viele Fragen und versucht allen Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Als schließlich auch noch seine Kusinen als Protagonisten auftreten, verliert man endgültig ein wenig den Überblick. Auch eigene Home-Videos aus Haos Jugend in der niedersächsischen Provinz deuten seine erfolgreiche Integration an. Sie ist der ersten Generation seiner Onkel und Tanten offensichtlich weniger gelungen. Die nach Deutschland ausgewanderten Menschen kämpften mit der Sprache und konnten nicht in ihren Traumjobs arbeiten.

Erzähler, Entdecker und Vermittler

So fungiert der Regisseur sowohl als Erzähler und Entdecker von Familiengeschichte, aber auch als etwas naiv-idealistischer Vermittler. Ein Happy End ist seiner Entdeckungsreise nicht beschieden. Doch sowohl er als auch die Zuschauer werden am Ende von „Hao are you“ um einige Erkenntnisse reicher sein. Familien sind komplizierte Gebilde. Ihren Problemen haftet immer etwas Universelles an, das man auf der ganzen Welt versteht. Persönliche und historische Prägungen können Wunden, Unausgesprochenes und Begehrlichkeiten zusätzlich verstärken.

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