Das unsichtbare Wesen

Drama | Frankreich 2022 | 91 Minuten

Regie: Marion Desseigne Ravel

Ein Familienvater beginnt nach einem Umzug im neuen Haus unter seltsamen Erscheinungen zu leiden und Geräusche zu hören, die außer ihm aber niemand wahrnimmt. Zunehmend steigert er sich in die Vorstellung hinein, dass ein furchtbares Wesen von ihm Besitz ergreifen will und gefährdet damit sich wie auch seine Umwelt. Eine in die Moderne verlegte Adaption von Guy de Maupassants fantastischer Novelle „Der Horla“, die klug und effektvoll die Problemstellung der Vorlage über den Einbruch des wissenschaftlich Unerklärlichen in eine rationalistische Gesellschaft aufgreift. Die auch formal einfallsreiche Verfilmung steigert die Krise dramaturgisch gekonnt mit Anleihen beim Horrorfilm zum stetig zunehmenden Identitätsverlust. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE HORLA
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
CPB Films/Arte France
Regie
Marion Desseigne Ravel
Buch
Olivier Fox · Olivier de Plas · Marion Desseigne Ravel
Kamera
Pierre Baboin
Musik
Alexandre Lessertisseur
Schnitt
Sarah Turoche
Darsteller
Bastien Bouillon (Damien) · Mouna Soualem (Nadia) · Milla Harbouche (Chloé) · Alix Blumberg dit Fleurmont (Anaïs Pellerin) · Judith Zins (Marion)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Thriller

Eine in die Moderne verlegte Adaption von Guy de Maupassants fantastischer Novelle „Der Horla“ um einen Familienvater, den nur von ihm wahrgenommene Geräusche und Erscheinungen in den Wahnsinn treiben.

Diskussion

Ein Spukhaus muss nicht aussehen wie Hui Buhs Schloss Burgeck oder im dunklen deutschen Walde stehen. Manchmal tut es auch ein ganz normales modernes Hochhaus mit Eigentumswohnungen irgendwo in der (im Film) stets sonnigen französischen Provinz. Dort zieht ein junges Ehepaar aus Paris zusammen mit Chloé (Milla Harbouche), seiner circa achtjährigen Tochter ein. Nadia (Mouna Soualem) ist medizinische Forschungsangestellte und findet in ihrem neuen Labor schnell Freunde und Vertraute. Obwohl erneut schwanger, übernimmt ersichtlich sie die Rolle der Familienmanagerin, während Damien (Bastien Bouillon) als Grafiker nun zu hundert Prozent im Homeoffice („télétravail“) arbeitet.

Krokodile unterm Zebrastreifen

Schon früh in Marion Desseigne Ravels Literatur-Neuverfilmung „Das unsichtbare Wesen“, die frei auf Guy de Maupassants Klassiker der psycho(patho)logischen Novelle „Le Horla“ beruht, zeigen sich indes Zeichen des Außergewöhnlichen, die sich alsbald zu etwas Beziehungsreich-Sinistrem zusammenballen. Zumindest für Damien (der als Einziger Absonderliches wahrnimmt) und uns, die dem zusehen können. Gehören die Krokodile, die unter dem Zebrastreifen leben sollen, noch unschuldigem Spiel und kindlichem Aberglauben an, so widersetzt sich die neue Behausung, als habe sie Eigenwillen, hartnäckig ihrer Inbesitznahme durch ihren menschlichen Meister. Die Tür sperrt sich dagegen, sich Damien zu öffnen; das so wichtige WLAN lässt ihn zunächst am digitalen Leben nicht teilhaben, bis er schließlich einen Kollegen in der Zentrale bitten muss, „die Kontrolle über das System“ zu übernehmen.

Die Dinge beginnen ernstlich problematisch zu werden, als Damien den seltsam rauschend-gurgelnden Ton, den er bereits am ersten Tag in der neuen Wohnung schwach wahrnahm, stärker und dauerhaft vernimmt – und sich dafür partout keine vernünftige Erklärung finden lässt. Sind die maroden Abwasserleitungen des in die Jahre gekommenen Apartmentkomplexes die Ursache? Und welche Rolle spielt eigentlich der schroff-wortkarge, wenig hilfreiche Klempner und Hausmeister Bernier (Miglen Mirtchev) in dieser Sache? Es gehört zu den Qualitäten des Bedrohlichen sowohl der literarischen Vorlage als auch dieser Verfilmung, dass wir alle als konditionierte Grundsucher unsere eigenen größten Befürchtungen an die Stelle des Unerklärlichen setzen können – und dies naturgemäß auch tun. Leidet Damien etwa unter stressinduziertem Tinnitus, ist er gar Opfer von Long Covid? Es hilft jedenfalls nicht, dass er im Homeoffice alsbald gänzlich zu versumpfen beginnt: Er wechselt seine Klamotten nicht mehr (die gesamte Zeit über wacht und schläft er in demselben alten T-Shirt mit der verwaschenen Aufschrift „Good Luck“) und hinkt mit der Fertigstellung seiner Aufträge bald heillos hinterher.

Manifestation im Augenwinkel

Das Geräusch, das nur er hört, schwillt an. Obwohl er nächtens fast kein Auge mehr zutut, trinkt jemand – oder etwas – seine Wasserflasche am Bett leer, ohne dass er das bemerkt. Ab und an ist da in seinem Augenwinkel eine schemenhafte schwarze Zusammenballung; er nennt sie „la présence“ (die Manifestation) und versucht, sie mit seiner Go-Pro-Kamera zu dokumentieren. Damien wird immer zerfahrener und reizbarer; seine Firma sagt sich von ihm los; schließlich versäumt er es, Chloé von der Schule abzuholen, und sucht verzweifelt Rat bei einer als Online-Spiritistin tätigen Nachbarin (Alix Blumberg dit Fleurmont).

All dies kann seiner durch und durch rational gesinnten Gattin selbstverständlich gar nicht gefallen; sie empfiehlt ihm stattdessen Sitzungen bei einem Psychotherapeuten und sucht für ein Wochenende Distanz zu Damien. Dieser dramatische Mittelakt von „Das unsichtbare Wesen“ reflektiert auf klug in die Gegenwart übertragende Weise die Problemstellung und erzählerische Haltung der Originalvorlage, in der Maupassant ebenso den Einbruch des wissenschaftlich Unerklärlichen in eine zutiefst positivistisch geprägte Moderne schildert – sowie die fieberhaften Erklärungsversuche aus jenem Geiste seitens des namenlosen Protagonisten, bis hin zur Möglichkeit einer viralen Infektion aus fernem Lande (!).

Auf die Katastrophe zu

Nach einem furiosen Rave Damiens mit seinen kabellosen Kopfhörern im leeren Apartment (eine gute Noise-Cancelling-Funktion ist nicht nur komfortabel, sondern kann geradezu überlebenswichtig sein – eine starke Szene) kulminieren die Erscheinungen und Ereignisse krisenhaft wie bei einem Krankheitsverlauf und führen geradewegs auf die Katastrophe zu. Die im Genre bewährten filmischen „Haunted House“- sowie „Body Horror“-Motive werden noch ergänzt um eine dramaturgisch geschickt getaktete Jekyll-und-Hyde-Variation im semitransparenten Spiegel. Diese auch für die zur Zeugenschaft gezwungenen Zuschauer manifeste Desintegration seiner Identität ist zu viel für Damien; er entschließt sich wie in der literarischen Vorlage zum Äußersten: Erst wer sein Leben zu verlieren wagt, der wird es (wieder) gewinnen, so eine von religiöser Hoffnung grundierte Deutungsmöglichkeit der filmischen Aussage. Doch das Ende, so viel sei verraten, ist verzweiflungsvoll und schwarz – wie Damiens Erscheinung.

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