De humani corporis fabrica

Dokumentarfilm | Frankreich/Schweiz/USA 2022 | 115 Minuten

Regie: Verena Paravel

Aus einer anthropologischen Perspektive heraus liefert ein Dokumentarfilm Ansichten aus französischen Krankenhäusern sowie aus dem Inneren der dort behandelten Patienten: Aufzeichnungen von Operationen mittels Mikro-Kameras, die Binnenansichten von Blutbahnen, Organen u.a. ermöglichen, und Berichte aus dem Alltag des Personals ergeben gemeinsam das Bild einer Institution, in der nicht nur erkrankte Körper versorgt werden, sondern die selbst der Behandlung bedürfen. Dabei findet die ästhetische Herangehensweise eindrucksvolle Bilder, die mit dem Spektakel ebenso flirten, wie sie Affekte anstreben und dabei durchaus auch Widerspruch herausfordern. - Ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
DE HUMANI CORPORIS FABRICA
Produktionsland
Frankreich/Schweiz/USA
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Norte/CG Cinéma/Rita Productions
Regie
Verena Paravel · Lucien Castaing-Taylor
Buch
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Kamera
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Schnitt
Lucien Castaing-Taylor · Verena Paravel
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 18.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Eine dokumentarische Reflexion über Beschaffenheit und Textur des menschlichen Körpers und die Institution „Krankenhaus“.

Diskussion

Im Jahr 1543 erschienen gleich zwei Bücher, die die Welt für immer verändern sollten. Einerseits Nikolaus Korpernikus’ Angriff auf das geozentrische Weltbild „Über die Umschwünge der himmlischen Kreise“, andererseits das Hauptwerk des flämischen Anatomen Andreas Vesalius mit dem Namen „Der Bau des menschlichen Körpers“. Der Astronom Kopernikus kränkte die Menschheit, indem er die Erde aus dem Mittelpunkt des Sonnensystems verbannte. Vesalius widersprach unter anderem der lange vorherrschenden Theorie von Claudius Galenus, die Bewegungen der Himmelskörper würden über Krankheit und Genesung entscheiden. Zweimal also hinterfragte man die vertraute Ordnung der Gestirne. Die Kopernikanische Wende schuf eine neue Karte des Himmels, Vesalius eine neue Karte des Körpers.

Auch der Regisseur Lucien Castaing-Taylor und die Regisseurin Véréna Paravel vom Sensory Ethnography Lab in Harvard forschen in ihren anthropologischen Filmen einer neuen Ordnung der Dinge nach. Etwa mit „Leviathan“ aus dem Jahr 2012, in dem dutzende von GoPro-Kameras den Alltag eines Fischerboots in kaleidoskopisches Chaos verwandeln, in dem der Mensch eindeutig nicht im Mittelpunkt steht. Und „Caniba“ von 2017 zeigt, dass man Körper so lange filmen kann, dass sie kaum noch als menschlich zu erkennen sind. Diesen Trick vollführen sie dort mit dem Mörder und Kannibalen Issei Sagawa, der unter ihrem beständigen Blick eine finstere Landschaft wird.

Die Kamera als chirurgisches Instrument

Ganz ähnlich ergeht es den Körpern in ihrem neuen Film „De humani corporis fabrica“, benannt nach dem Originaltitel von Vesalius’ Atlas der Anatomie. Er zeigt das Innenleben französischer Krankenhäuser und der darin behandelten Patienten. Untergrundtunnel und Eingeweide, Rohrpost und Blutbahn: Das Duo präsentiert Krankenhäuser als Körper und menschliche Körper als fremdartige Orte. Gezeigt werden Endoskopien und geöffnete Brustkörbe, Kaiserschnitte und Obduktionen, Patientengespräche und patrouillierende Wachleute.

Kameras, so zeigt es der Film, sind chirurgische Instrumente. Einerseits ganz konkret, weil viele Eingriffe ohne die hochmodernen Miniatur-Apparate unmöglich wären. Andererseits metaphorisch, weil der Kamerablick vollständige Körper in Einzelteile zerlegen kann, weil er einschneidend wirkt und penetriert. Der Filmschnitt erzeugt Desorientierung, er wirft in Szenarien, bei denen nicht sofort klar ist, ob sie in oder außerhalb eines Körpers stattfinden.

In einer frühen Szene bewegt sich die Kamera durch die Großhirnrinde eines Mannes, und diese innere Landschaft wirkt, als wäre sie aus Wolken geformt. Wenn die Kamera sich nach einer Weile aus dem Schädel herausbewegt, ist es fast, als erwache man aus einem Traum. So sieht der Körper durch die Instrumente aus, die ihn sichtbar machen, so wird er von ihnen neu konstituiert. So verwandelt er sich in digitale Signale und wird gleichzeitig realer und imaginärer. Paravel und Castaing-Taylor suchen das Widerwärtige, schockierende Vanitas-Motive, aber auch die Schönheit des Abjekten. Eine verletzte Prostata und Blasenkatheter stoßen ab, rot-blau-weiß gefärbte Tumorzellen werden wie ein Gemälde von Joan Mitchell oder Jackson Pollock gezeigt.

Die Misere der Krankenhäuser

Die verschiedenen Fachärzte und ihre Mitarbeiter sind seltener zu sehen als zu hören. In der Regel werden die Bilder einer Operation von ihren Gesprächen begleitet. Die nehmen viele Formen an, von knappen, präzisen Kommandos über Alltags-Tratsch bis hin zu direkten Hilferufen. Das medizinische Personal ist spürbar ausgebrannt und überfordert. Es klagt über steigende Mieten, unterbesetzte Intensivstationen und das daraus entstehende Leid ihrer Patienten. Unterstützung von Seiten der Politik erwarten sie kaum noch, Downsizing und andere Sparmaßnahmen treiben sie an den Rand der Verzweiflung.

So bildet „De Humani Corporis Fabrica“ die Schnittmenge von zwei US-Filmen aus den frühen 1970er-Jahren. Zum einen „Hospital“ von Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, in dem anhand des Metropolitan Hospital Center in New York ein kritisch-soziologischer Blick auf ein Gesundheitswesen geworfen wird, das nur noch Nummern und Symptome, aber keine Menschen mehr kennt. Zum anderen „The Act of Seeing with One’s Own Eyes“ von Stan Brakhage. Der Experimentalkünstler führt den Begriff Autopsie zu seinem griechischen Ursprung „autopsia“ (eigenes Anschauen) und begleitet mit seiner 16mm-Kamera stumm eine Reihe von Obduktionen.

Transgression und Affekt

Ihre Varianten von Brakhages ästhetischer Reflexion und Wisemans Institutionsanalyse sind ungleiche Weggefährten. Sie erweitern diese Instrumente um ihren Galgenhumor und die Macht der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung. Für die zwei Anthropologen hinter der Kamera ist Sehen immer auch ein Spektakel, es geht ihnen um Transgression und Affekt. Ansonsten würden sie weder Kannibalen noch Geburten noch verzweifelte Demenzkranke filmen. Man kann über „De Humani Corporis Fabrica“ sicher so diskutieren, wie man schon etwa über Gunther von Hagens’ „Körperwelten“ oder die Ausstellungen der mexikanischen Todes-Künstlerin Teresa Margolles gestritten hat. Schon der Titel verspricht eine kopernikanische Wende im Sehen, eine visuelle Renaissance, die der Film nicht bieten kann.

Oder aber, anders betrachtet: Er erhofft sich diese Wende. Die Harvardianer vergleichen Körper und Krankenhäuser und fragen, wie natürlich diese Gebilde sind, also auch: wie formbar. Könnten Krankenhäuser nicht auch ganz anders sein? Ohne das Geld, den Druck, die Angst, das Leid? Und die Körper, was ist mit denen? Könnten sie dem Verfall, den Zwängen, der Optimierung, der Bio-Macht entkommen?

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