Tastenarbeiter - Alexander von Schlippenbach

Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 106 Minuten

Regie: Tilman Urbach

Doku über den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach, der seit den 1960er-Jahren einer der zentralen Exponenten des Free Jazz in Deutschland ist. In dem Porträt begegnet man den Musiker in seinen vier Wänden in Berlin-Moabit, auf einer Tour mit seinem Quartett, beim Treffen mit Weggefährten oder bei Proben mit dem Globe Unity Orchestra. Der adelige Musiker, der den Free Jazz vor allem als Möglichkeit verstand, sich vom US-amerikanischen Jazz zu lösen, hält sich mit verbalen Erläuterungen allerdings zurück und lässt sich lieber als Mensch fotografieren, der bei allem, was er tut, ein hohes Maß an Konzentration an den Tag legt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Modofilm/Isar Film Prod.
Regie
Tilman Urbach
Buch
Tilman Urbach
Kamera
Marcus Schwemin · Justin Urbach
Musik
Alexander von Schlippenbach
Schnitt
Gaspard Gillery
Länge
106 Minuten
Kinostart
09.11.2023
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Musikdokumentation
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Verleih DVD
Salzgeber
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Doku über den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach, einem der zentralen Exponenten des Free Jazz in Deutschland.

Diskussion

Die Jazzmusiker Peter Brötzmann, Ernst-Ludwig Petrowsky, Jost Gebers und Michel Pilz sind allesamt kürzlich verstorben. Wer also die Geschichte des freien Jazz in Deutschland als „Oral History“ fassen will, tut gut daran, sich zu beeilen. Der Filmemacher Tilman Urbach hat den Schuss gehört und den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach (Jahrgang 1938) in Berlin-Moabit besucht. Er begleitete ihn auch auf einer Tour mit seinem Quartett, beobachtete ihn bei Begegnungen mit Weggefährten wie Manfred Schoof und Günter „Baby“ Sommer und dokumentierte 2021 Proben mit dem Globe Unity Orchestra.

Das Globe Unity Orchestra, das bei seiner Premiere 1966 eine außerordentliche Versammlung höchst produktiver Musiker des freien Jazz von Brötzmann über Willem Breuker und Albert Mangelsdorff bis hin zu Han Benning war, ist ein erster Anlass zum Eintauchen in die Geschichte und die Biografie von Schlippenbachs, der als Adeliger ohne entsprechenden Habitus immer schon ein „Outsider“ war. Von Schlippenbach setzte seine Absicht, eine Existenz als freier Musiker zu führen, auch gegen den Widerstand des Vaters durch. Als „bad boy“ flog er vom Internat, brach eine musikpädagogische Ausbildung ab und studierte an der Kölner Musikhochschule Komposition. Erste Engagements in den Jazzbands von Gunter Hampel und Manfred Schoof spart sich der „Tastenarbeiter“, um sich stattdessen auf das Verhältnis des freien Jazz zum Zeitgeist der späten 1960er-Jahre zu konzentrieren. Free Jazz habe manchem ja als musikalisches Pendant zur antiautoritären Bewegung gegolten, erinnert sich der Musiker an die mit der Musik verbundenen Hoffnungen.

Der „Spirit“ der späten 1960er-Jahre

Am Free Jazz schätzt von Schlippenbach vor allem die Möglichkeit, nicht länger den US-amerikanischen Jazz imitieren zu müssen. Ein Aktivist sei er im Gegensatz zu einigen Weggefährten nie gewesen; die intensive Beschäftigung mit der Musik habe ihm gar nicht die Zeit gelassen, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Auf Bilder des ermordeten Studenten Benno Ohnesorg mag der Film dennoch nicht verzichten, um etwas vom „Spirit“ dieser Zeit zu transportieren.

Nichtsdestotrotz gehörte von Schlippenbach zu den Gründungsmitgliedern des Kollektivs „Free Music Production“ (FMP), das als Musiklabel von 1968 bis 2010 eine unvergleichliche Plattform für die Produktion, Präsentation und Dokumentation frei improvisierter Musik war und zudem Events wie die jährlich stattfindenden „Workshops freier Musik“ und das Anti-Festival „Total Music Meeting“ organisierte. Doch es ist nicht Alexander von Schlippenbach, der von dieser Zeit erzählt, sondern Jost Gebers, einer der Initiatoren von „FMP“. Gebers erinnert daran, dass der Kollektivgedanke am Temperament und an den unterschiedlichen Ansprüchen der Akteure scheiterte, weil schon im kleinen Kreis das gleichberechtigte Mitspracherecht zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Auch sonst zeigt sich der ruhig und besonnen auftretende von Schlippenbach nur sehr selten in Plauderlaune. Der Filmemacher muss ihn wiederholt aus dem Off auffordern, sich zu erinnern. Das irritiert in gewisser Weise, da es Mode geworden ist, dass Dokumentaristen hinter ihren Protagonist:innen verschwinden und fast unsichtbar werden.

Wie man Ful zubereitet

Wer also am Mythos des Politischen im Free Jazz festhalten möchte, wird in „Tastenarbeiter“ nicht viel finden. Wen dagegen die Haltung eines der zentralen Exponenten dieser Musik über viele Jahrzehnte interessiert, der bekommt Einiges zu sehen. Etwa von Schlippenbach beim Rauchen, beim Anspitzen eines Bleistifts mit einem Messer oder bei der Zubereitung des arabischen Gerichts „Ful“. Stets wirkt der Musiker hoch konzentriert. So auch bei den Proben für eine Schallplattenaufnahme oder im Zusammenspiel mit seiner Frau, der Pianistin Aki Takase. Die macht ihm vor laufender Kamera eine Liebeserklärung, dass mit ihm das Leben „nie langweilig“ sei. Wovon im Film dann allerdings nur wenig bis nichts zu sehen ist, weil das gemeinsame Spielen und auch der gemeinsame Alltag, wie man ihn hier zu sehen bekommt, weitgehend wortlos geschieht.

Von der Kompromisslosigkeit des Musikers, gepaart mit einer Portion Rigorismus, erzählt eine Anekdote, die von Schlippenbachs Sohn Vincent beiträgt. Als Kind habe er eine Kassette mit Schlagermusik für Kinder besessen, die er sehr gerne und häufig gehört habe. Eines Tages kam der Vater ins Zimmer, sprach: „Jetzt reicht’s!“, nahm die Kassette und warf sie in den Ofen. Der Sohn erzählt es lachend, findet es aber noch immer etwas hart, auch wenn er den erzieherischen Impuls, ihn von falschen Einflüssen fernzuhalten, durchaus erkennt. Anscheinend hat dies gefruchtet, da Vincent von Schlippenbach als DJ Illvibe international anerkannt ist. Zu sehen ist auch, wie er mit seinen Turntables mit Vater und Stiefmutter performt.

Der Mensch im „Tastenarbeiter“

Liest man im Pressematerial die Erklärung des Filmemachers, dass es ihm mehr um den Menschen von Schlippenbach als um den Musiker gegangen sei, dann scheint sich von Schlippenbach gedacht zu haben, dass den Menschen bei seiner Arbeit zu zeigen wohl hinreicht, um den Menschen zu beschreiben. Mehr Mensch als in „Tastenarbeiter“ war aus Alexander von Schlippenbach beim besten Willen nicht herauszulocken. Nicht einmal durch Zurufe aus dem Off.

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