Die Träne, die vom Gesicht der Mutter tropft, ist die Patrone, die der Vater in sein Magazin lädt. Ein Schnitt bringt sie zusammen. Trauer und Wut. Zwei Wege, die mit der gleichen Tragödie beginnen. Aber nur einer führt zurück ins Leben. Mit dem ersten Bild von „Silent Night“ ist der Weg von Brian Godlock (Joel Kinnaman) längst vorgezeichnet. Noch im Weihnachtspullover verfolgt er zu Fuß zwei Gang-Autos, die ihrerseits aufeinander feuern. Der rote Ballon seines Sohns taucht (als kleine Hommage an Albert Lamorisse) am Himmel auf. Der Vater verfolgt ihn und versucht ihn zu fassen, während er Jagd auf die Männer macht, die seinen Sohn getötet haben; er muss ihn aber, wie alles andere in seinem Leben, für seine Rache ziehen lassen. Bevor er die Männer erwischt, trifft ihn selbst eine Kugel. Sie dringt in seinen Kehlkopf ein, raubt ihm die Fähigkeit zu sprechen und beinahe das Leben.
Nur noch eine Ruine
Erst als Brian aus dem Krankenhaus in das Einfamilienhaus zurückkehrt, zeigt eine Rückblende, was passiert ist. Die Wagen, die er eben noch zu Fuß verfolgte, schlittern durch die Vorstadtstraße, während die Insassen einander aus den Fenstern beschießen. Brian legt sich schützend über seinen Sohn. Als er sich erhebt, hat sich unter ihm schon eine riesige Blutlache gebildet. Sein Sohn stirbt. Mit ihm stirbt die Familie.
Der Ort, an den Brian Monate später zurückkehrt, ist nur noch eine mit Weihnachtsschmuck behängte Ruine. Es gibt keine Rückkehr, keine Worte, nur stumme Trauer. Das Einfamilienhaus ist ohne Familie ebenso wenig ein Heim, wie der Elektrokehlkopf ein Ersatz für die verlorene Stimme ist. Die Sprachlosigkeit, die der Film fast zwei Stunden durchhält, mag ein erzählerisches Gimmick sein, symbolisch eher plump, und doch ist sie in ihrer Konsequenz zwingend. Ein einziges Mal lässt Regisseur John Woo den Protagonisten stumm schreien; ansonsten dominieren die bis auf ihre wortlose Essenz heruntergeschliffenen Emotionen, die der legendäre Action-Regisseur mit aller melodramatischen Konsequenz durchexerziert.
Wo die Ehefrau Saya (Catalina Sandino Moreno) über ihre Tränen und die Kunst einen Schritt zurück ins Leben findet, bleibt Brian nur die Wut. Sie weint, geht zur Arbeit und malt Porträts des verstorbenen Sohns. Er brütet, säuft und zerschmettert, bis die Ehe zerbricht und der zerstörte Mann allein zwischen Weihnachtsbaum und Kinderzimmer zurückbleibt. Das psychologische Fundament ist einfach, in seiner pathetischen Konsequenz eben auch effektiv: Allmählich überwindet die Wut die Verzweiflung, auch wenn sie nicht das wiederherzustellen vermag, was nicht wiederherzustellen ist. Nur die Rache bleibt. Brian pumpt sich auf, lernt das Driften in dem mit kugelsicheren Westen ausgekleideten Mustang, lernt das Ballern auf dem Schießstand und die Grundlagen des Messerkampfs auf YouTube.
Blutiger Abstieg in den Wahnsinn
Was „Silent Night“ als Vorbereitung auf den Rachefeldzug zusammenmontiert, ist gefährlich deckungsgleich mit zeitgenössischen rechtskonservativen Männlichkeits-Fantasien. Doch der Film löst sie nicht als erfolgreichen Racheakt ein, sondern als groben und blutigen Abstieg in den Wahnsinn. Im ersten Anlauf entführt Brian einen Mann, den er als eines der höheren Bandenmitglieder identifiziert. Das gut geplante Verhör, für das der Gangster gefesselt wird und einen Tisch auf den Zettel geknallt bekommt, läuft dann aber so gehörig schief, dass es die lang geplante Vergeltung um ein Haar direkt beendet. Der Gangster befreit sich, versenkt ein Messer in Brians Oberschenkel und beginnt ein tödliches Gerangel, das nicht Kampfkunst ist, sondern nur noch Grunzen und Ächzen, Schmerz und Tod.
„Silent Night“ tritt den Beweis an, dass John Woo das Feingefühl fürs Grobe nicht verloren hat. Die späte Rückkehr zum US-amerikanisch produzierten Actionkino fühlt sich auch ein wenig wie die Rückkehr zur vertrauten Einfachheit des Genres an. Zumindest ein Teil der Einfachheit scheint dem Budget geschuldet zu sein: die aufwendigen Setpieces sind zwar beeindruckend choreografiert, müssen sich optisch aber von eher mittelmäßiger CGI stützen lassen. Nicht dutzende Magazine werden in Zeitlupe in die Körper der Widersacher geleert, sondern eine für Woo-Verhältnisse eher bescheidene Dosis Blei. Viel von der Wucht, die bei Woo sonst in längere und ausführlichere Actionsequenzen kanalisiert wird, fließt in das Brechstangen-Melodrama. Dennoch gelingt es Woo, die ständig stimulierte Tränendrüse und den unterbudgetierten Kugelhagel zu einem absolut stringenten Film zu verbinden, der sich von der zerbrochenen Existenz bis in die Hölle des Gangviertels durchwühlt.
Auf dem Friedhof
Oder, geographisch gesprochen: vom grünen Rasen der US-Vorstadt auf den nackten Asphalt des Ganglands. Der liegt nicht im Abgrund, sondern in der obersten Etage. Die zentrale Actionsequenz führt ein schier endloses Treppenhaus aus nacktem Beton hinauf in einen mit Discokugeln und goldenen Spiegeln zugehängten und mit überlauten Beats und Heroin zugedröhnten Drogendealer-Himmel. Ein Himmel, der für Brian Godlock nur eine Hölle sein kann. Und doch endet „Silent Night“ nicht in der symbolischen Hölle, sondern auf einem Friedhof. Dort, wo Tränen und Patronen hinführen.