Die Unsichtbaren (2023)

Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 102 Minuten

Regie: Matthias Freier

Marianne Atzeroth-Freier war eine der ersten Frauen bei der Hamburger Kriminalpolizei. 1991 recherchiert sie im Zuge einer Entführung auf eigene Faust und deckt dadurch die „Säurefass-Morde“ auf. Der vielschichtige, extrem spannende Dokumentarfilm rekapituliert die Geschichte einer tatkräftigen Polizistin, die sich als Frau in einer Männerwelt behaupten musste. Mit Hilfe von Original-Tonaufnahmen, Archivbildern, Interviews und eingestreuten fiktionalen Szenen entsteht das Bild einer entschlossenen Persönlichkeit, die sich um keinen Preis von der Suche nach der Wahrheit abbringen lassen wollte. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Rejell GmbH
Regie
Matthias Freier
Buch
Matthias Freier
Kamera
Kay Madsen
Musik
Therese Strasser
Schnitt
Marielle Pohlmann
Darsteller
Constanze Andree (Marianne Atzeroth-Freier)
Länge
102 Minuten
Kinostart
15.02.2024
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm über die Hamburger Kriminalkommissarin Marianne Atzeroth-Freier, die sich als Frau in einer Männerwelt behauptete und unter anderem die „Säurefass-Morde“ aufklärte.

Diskussion

Kurze Sequenzen erinnern an alte Fernsehbilder, deren Antennenempfang zeitweilig gestört ist. Sie zeigen eine gut gelaunte Frau am Schreibtisch und vor einer Wand mit Fotos und Notizen, dazwischen Tonaufnahmen. Die Kamera gleitet langsam über einen Kassettenrekorder und erfasst die Einzelheiten seiner Oberfläche. Das Band dreht sich, und die vorher leise elektronische Musik schwillt an. Dann die ersten Inserts, darunter auch die Information, dass der Regisseur Matthias Freier der Stiefsohn der Kriminalkommissarin Marianne Atzeroth-Freier war.

Als stünde sie vor dem Spiegel

Am Anfang stehen ebenso irritierende wie wegweisende Eindrücke. Die Bildstörungen wirken wie subtile Erinnerungsfetzen; vereinzelte Impressionen, Momentaufnahmen, als ob sich die Gedanken erst zurechtrücken und sortieren müssen. Private Fotos sind zu sehen, dazu die auffällig klare Stimme der Polizistin, schließlich der Titel und die ersten nachgestellten Bilder: Eine Frau in Polizeiuniform, gespielt von Constanze Andree, blickt in die Kamera und zuppelt sich die Krawatte zurecht, als stünde sie vor einem Spiegel. Dazu berichtet Marianne Atzeroth-Freier von ihrer Arbeit bei der Polizei. 1975 wurde sie als Schutzpolizistin eingestellt, eine von wenigen Frauen. Anfang der 1980er-Jahre erfolgte die Versetzung zur „Sitte“ und ihre Mitwirkung in sogenannten „Verhandlungsgruppen“: Bei Geiselnahmen sprach sie mit dem Täter, bei Entführungen mit den Angehörigen.

Im September 1991 dann der Fall Christa S., eine Entführung mit telefonischen Geldforderungen. „Ich kenne die Stimme“, sagt Christas Freund, ein wohlhabender Kürschner, der vor einigen Jahren von seiner Frau verlassen wurde und nun befürchtet, dass er seine neue Lebenspartnerin nicht mehr wiedersieht. Christa S. wird unerwartet vom Entführer freigelassen. Der Täter ist bald gefunden: ein ehemaliger Lehrling von Christas Freund.

Beim Strafprozess gegen ihn wird Marianne Atzeroth-Freier als Zeugin vorgeladen. Inzwischen ist sie bei der Mordkommission tätig – und zur Untätigkeit verdammt. Als einzige Frau in einem Männerteam wird sie von allen ignoriert. In der Verhandlungspause des Prozesses spricht sie eine unbekannte Frau an. Ihre Tochter sei verschwunden und habe den Angeklagten ebenfalls gekannt. Atzeroth-Freier beginnt zu recherchieren und stößt auf immer mehr Merkwürdigkeiten, die auch das Verschwinden der Ehefrau des Kürschners betreffen. Doch keiner ihrer Kollegen nimmt sie ernst. Eine ehemalige Kollegin sagt: „Sie hat kein Bein an Deck bekommen.“, und: „Sie hat sich wie ein Terrier in den Fall verbissen.“

Die „Säurefass-Morde“

Atzeroth-Freier ermittelt in ihrer Freizeit, weil sie den Fall im Dienst nicht untersuchen darf. Niemand liest ihre Akten und Ermittlungsergebnisse. Doch sie ist letztlich erfolgreich und behält mit ihren Vermutungen recht. Der Mörder wird überführt, doch ihre Arbeit wird nicht anerkannt. Es scheint, als ob die Kommissarin den Männern lästig ist, weil sie ihre bequeme Routine stört. Sie hat es gewagt, als Frau in die unheilige patriarchalische Allianz männlicher Machtstrukturen einzubrechen. Dafür muss sie bestraft werden. Doch sie bleibt ruhig und erträgt still alle Demütigungen und Frechheiten ihrer Kollegen.

Der Film betrachtet nicht nur den Kriminalfall, sondern auch die Zeit nach der Festnahme des Täters. Erst nach dem Tod von Atzeroth-Freier im Jahr 2017 wurde der taffen Kommissarin Beifall gezollt. Die Morde, die sie aufgeklärt hatte, stießen auf mediales Interesse. Wohl auch, weil die Faszination des Grauens hier auf die Realität trifft; die Serie „Gefesselt“ entstand auf der Grundlage der „Säurefass-Morde“.

Fern jeder Sensationsgier

Doch der Filmemacher Matthias Freier geht in „Die Unscheinbaren“ einen sehr persönlichen Weg: Er stellt die Polizistin in den Mittelpunkt, nicht die Verbrechen oder den Täter. Er analysiert die Arbeit der Kommissarin und ihre Persönlichkeit, ohne in Privates abzugleiten oder bloße Sensationsgier zu befriedigen. Die besonderen Fähigkeiten der Polizistin werden schnell deutlich. Sie konnte sehr gut zuhören, zeigte echte Anteilnahme, wahrte aber die Grenze zwischen Beruf und Privatleben; sie wusste sich abzugrenzen und war schlicht eine richtig gute Polizistin.

Marianne Atzeroth-Freier steht sinnbildlich für alle „Unsichtbaren“, nicht nur die ermittelnden Kriminalbeamtinnen und -beamten, sondern auch die Opfer und ihre Angehörigen, die hier ebenfalls eine Stimme erhalten. Freier konnte auf eine riesige Materialfülle zurückgreifen: auf viele Tonaufnahmen seiner Stiefmutter, Fotos, Interviews mit Beteiligten und Betroffenen, Archivbilder des Fernsehens. Fiktionale Szenen mit einer meist still lächelnden Kommissarin zeigen ausschließlich scheinbar unwichtige Alltagsszenen ohne inhaltliche Relevanz. Das ist ein geschickter dramaturgischer Trick. Denn das dient Freier nicht nur als roter Faden, sondern erzeugt eine unterschwellige Spannung, die den dokumentarischen Charakter des Films unterstützt und gleichzeitig eine persönliche Tonalität anklingen lässt. Die Polizistin wirkt dadurch noch realistischer und geerdeter.

„Die Unsichtbaren“ ist ein packender Film, von Anfang bis Ende. Doch das genügt Freier nicht; er sorgt auch für gute Stimmung. So bringt er das Ermittlerteam wieder zusammen. Dazu gehört auch das Original-Video „Soko 924 – der Film“, das einer der Kommissare seinerzeit mit seiner neuen Videokamera gedreht hatte. Es zeigt authentische Bilder aus der Ermittlungsarbeit und Marianne Atzeroth-Freier im Einsatz, in der kurzen, aber vielleicht glücklichsten Phase ihres Berufslebens: als anerkanntes Mitglied eines Teams.

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