Dokumentarfilm | USA 2023 | 101 Minuten

Regie: Raoul Peck

Dokumentarfilm über den Kampf einer afroamerikanischen Familie um ein großes Grundstück an der Küste von North Carolina, auf das ein Bauunternehmer Anspruch erhebt. Die spezifische Erfahrung von Familienmitgliedern aus verschiedenen Generationen bietet die Grundlage von universellen Fragen über die Bedeutung von Grundbesitz sowie über die Beziehung zwischen Geschichte und Justiz, Recht und Gerechtigkeit sowie Landschaft und Erinnerung. Konventionelle Elemente wie Voiceover und Interviews werden mit langen Naturaufnahmen angereichert, die dem umkämpften Gebiet eine eigene Identität verleihen und es aus der reinen Verwertungslogik befreien. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SILVER DOLLAR ROAD
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Amazon Studios/JuVee Productions/ProPublica/Velvet Film
Regie
Raoul Peck
Buch
Raoul Peck
Kamera
Katie Campbell · Mayeta Clark
Musik
Alexei Aigui
Schnitt
Alexandra Strauss
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; nf
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über eine afroamerikanische Familie, die sich dagegen wehrt, Land an der Küste von North Carolina an einen Bauunternehmer zu verlieren.

Diskussion

Landschaften sind beständig und bündeln Erinnerungen. Wer Grund besitzt, kann also Erinnerung formen. Den Baum fällen, unter dem man als Kind gespielt hat, das Haus abreißen, in dem man aufgewachsen ist, vielleicht sogar den Hügel einebnen, von dem man einst die Topografie der Jugend überblicken konnte. Wo um Land gestritten wird, geht es immer auch um die Macht über die Vergangenheit.

Raoul Pecks Dokumentarfilm „Silver Dollar Road“ erzählt die Geschichte der afroamerikanischen Familie Reels. Basierend auf einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 2019 wird ihr langer Kampf um einen kleinen Streifen Küste in North Carolina geschildert. Das Gebiet ging erstmals unter Familienpatriarch Elijah Reels in ihren Besitz über, doch der verlor das Grundstück 1939 durch Steuerrückstände. Sein Sohn Mitchell kaufte es 1944 zurück, starb jedoch 1970 ohne Testament.

Besitzansprüche verlieren sich in staubigen Archiven

Verschiedene Nachkommen rangen um das Erbe, stellenweise mit gefälschten Dokumenten. Einige der Reels leben weiter an der Silver Dollar Road, sie bauen und fischen dort und betreiben Landwirtschaft. Erst als Jahrzehnte später das Bauunternehmen „Adam Creeks Associates“ Anspruch auf das Gebiet erhebt, kommt es zur Eskalation. Licurtis und Melvin Reels weigern sich, das Grundstück zu räumen, und landen für Jahre im Gefängnis. Ihnen wird Hausfriedensbruch vorgeworfen – weil sie sich weigern, ihre eigenen Häuser zu verlassen.

Für den konkreten juristischen Fall in all seiner Komplexität interessiert sich Peck weniger als für seine Historizität und Gerechtigkeitsfragen. Das Problem des rechtmäßigen Besitzers ist allein aus der Gegenwart heraus nicht zu lösen, Besitzansprüche verlieren sich in staubigen Archiven. Fast ein Drittel des schwarzen Grundbesitzes in den Südstaaten besteht aus Erbeigentum, dass einer Vielzahl von Familienmitgliedern überlassen wurde. Dazu kommt, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts rassistische Kampagnen gezielt schwarze Landbesitzer vertrieben haben. Fast 90 Prozent des Ackerlands von Afroamerikanern ging im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren. Steht ihnen das Land Generationen später zu?

Peck konkretisiert abstrakte Zahlen, verwandelt Karten in Landschaften und verknüpft Dokumente mit Menschen. „Silver Dollar Road“ ist auch die Miniatur eines ausladenden Familienromans, der über Generationen hinweg erzählt wird. Alles beginnt bei der 95-jährigen Gertrude Reels, bei einer großen Geburtstagsfeier lernt man ihre Kinder und Kindeskinder kennen. Die Familienbande visualisiert Peck mit einem animierten Stammbaum, der noch in Gefängniszellen Wurzeln schlagen kann.

Verwurzelt zwischen Mangrovenwäldern und Atlantik

Peck ist bemüht, die Beziehung der Reels zu ihrer Umwelt herauszuarbeiten. In sanften Bewegungen gleitet seine Kamera über Wälder und Sümpfe. Diese Bilder formen ein verlorenes Paradies zwischen Mangrovenwäldern, taunassen Wildwiesen und dem endlosen Blau des Atlantiks. Die mysteriöse Schönheit evoziert unbeschwerte Jugendtage, von denen Mitglieder der Familie Reels wortreich und eloquent erzählen können. Ihre Erinnerungen werden mit dem Publikum geteilt, um sichtbar zu machen, was in den Unterlagen nirgendwo vermerkt ist – was ihnen das Land bedeutet.

Wenn es in der zweiten Hälfte des Films stärker um die Gefangenschaft von Marvin und Licurtis geht, filmt Peck finstere Regenwolken und aufgeschwemmten Schlamm. „Silver Dollar Road“ ist eher drängend als subtil. Die Musik dominieren dann hoffnungslose Mollakkorde, vor allem versprengte Piano-Töne geben die gedämpfte Stimmung vor. Wobei man den Schmerz und die Wut in der Regel aus den expressiven Gesichtern der Interviewpartner ablesen kann. Die Jahre graben allen Reels Furchen ins Gesicht. Jeder Rückschlag wird eine Falte. Wobei auch die Triumphe der Familie und vor allem ihre große Wärme und Solidarität aus Protestaktionen und Familienfeiern erkennbar sind. Peck begleitet sie auch bei Expeditionen durch ihre Heimat, die Kamera folgt den Laufwegen und Trampelpfaden, die längst in Fleisch und Blut übergegangen sind. Diese langen Fahrten erzählen von der Beziehung zwischen Grundbesitz und Bewegungsfreiheit.

Derartige neue Aufnahmen werden von zahlreichen älteren Home Videos und Archivmaterial unterstützt. Gerade die privaten Amateuraufnahmen werden wirkungsvoll eingesetzt. So filmt Mamie Reels (die Schwester der Inhaftierten) mit, wie die Abrissarbeiten beginnen. Und ihr Sohn Billy legt sich mit den Handwerkern an. Als der Streit sich zuspitzt, verliert sie auch die Kontrolle über die Kamera, und so wird das Bild vom angestauten Zorn in verwackeltes Chaos verwandelt. Es ist nicht immer leicht, schmerzliche Dinge klar zu sehen. Ohnehin bleibt die Gegenseite weitestgehend unsichtbar, eine ferne, bürokratische Macht. Als Melvin und Licurtis das Gefängnis verlassen dürfen, hat sich Peck um die Überwachungsaufnahmen bemüht. Noch ein großer Triumph wird so durch die Augen des Strafvollzugs gesehen.

Grundeigentum als Politikum

Der Kampf um Erbeigentum steht nicht nur für sich. Durch kurze Einsprengsel aus Fernseh- und Radiosendungen öffnet Peck seine Filmwelt. So läuft etwa während einer Autofahrt ein Beitrag über die amerikanischen Ureinwohner, die bis heute ganz ähnliche Fragen um Grundeigentum und Reservationen beschäftigt. Auch Verweise auf den Hurrikan Irene oder das Ende von Barack Obamas zweiter Amtszeit geben Kontext. In den Interviews wird mehrfach die These vertreten, es gehe hier nicht unbedingt um Ethnie, sondern um Armut an sich. So gelingt dem Film gleichzeitig, Sprachrohr der spezifisch Betroffenen zu sein, und universellere Fragen aus ihrer Erfahrung zu entwickeln.

Zuletzt wirft „Silver Dollar Road“ einen skeptischen Blick in die Zukunft. Wie wird sich eine junge Generation zu derart alten Konflikten verhalten? Wie wichtig ist das Land der Großväter und Urgroßväter, wie wütend kann man auf Ungerechtigkeiten sein, die man nicht erlebt hat? Zumindest Nate Ellison, Großneffe von Melvin, gibt sich kämpferisch. Bislang ist er das Ende des Stammbaums, die neueste Wurzel. Und er erinnert sich an eine Landschaft, die es bald vielleicht nicht mehr geben wird.

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