Drama | Deutschland 2023 | 89 Minuten

Regie: Almut Getto

Im Deutschland der nahen Zukunft wird ein elfjähriger Junge an einer Eliteschule aufgenommen. Mit großem Ehrgeiz stürzt er sich in die Ausbildung, doch der Druck der Akademie und die angestachelte Konkurrenz mit den anderen Schülern bringt ihn bald an persönliche Grenzen. Der Science-Fiction-Fernsehfilm reflektiert kritisch aktuelle Entwicklungen im Schulsystem, auf dem Arbeitsmarkt und der Gesellschaft, ohne neue Technologien zu verteufeln. Ihre vielfältigen Implikationen werden auf der persönlichen Ebene des Jungen sichtbar gemacht. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Odeon Fiction
Regie
Almut Getto
Buch
Hans-Ullrich Krause · Christian Görlitz · Almut Getto
Kamera
Willy Dettmeyer
Musik
Joachim Dürbeck · René Dohmen
Schnitt
Siao Lee Wang
Darsteller
Leo Alonso-Kallscheuer (Morin) · Marlene Morreis (Katja) · Frederic Linkemann (Steven) · Yodit Tarikwa (Leona) · Michael Kranz (Konrad Dramm)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Science-Fiction
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IMDb

„Near Future“-Fernsehfilm um einen elfjährigen Jungen, der im Jahr 2037 auf einer Eliteschule angenommen wird, darüber aber bald jede Lebensfreude verliert.

Diskussion

Welchen Zweck ihre Klangskulpturen denn hätten, fragt der elfjährige Morin (Leon Alonso-Kallscheuer) seine Großmutter. Wenn sie damit fertig sei, stünden die Dinger ja nur herum. Oma Ida (Michaela Rosen) reagiert wohlwollend und verständnisvoll. Mit ihrer Trucker-Jacke und den offenen Haaren wirkt sie fast wie aus der Zeit gefallen. In ihrer Werkstatt mit dem verwilderten Garten hat sie sich eine Oase jenseits des Alltagstrubels eingerichtet. Dieser lässt den Schüler ganz selbstverständlich nach dem ökonomischen und zukunftsträchtigen Nutzen fragen. Der nach seinem jungen Protagonisten benannte Fernsehfilm spielt im Jahr 2037, also in einer nicht allzu fernen Zukunft – und das macht das Gedankenspiel, das dieses Science-Fiction-Drama eröffnet, auch so beunruhigend.

Das Leistungsprinzip steht über allem

Die Weltlage hat sich im Vergleich zu heute verschärft. Die Erde vertrocknet zusehends. Rohstoffe sind knapp, Lieferketten dauerhaft unterbrochen. Wissenschaft, Wirtschaft und Politik müssen über den Rand der Erde hinaus blicken, um das Leben langfristig aufrechtzuerhalten. Der Abbau von Rohstoffen auf anderen Planeten, die Verlängerung des Lebens und die Optimierung des privaten Daseins haben den Druck auf alle Bereiche der Gesellschaft erhöht. Wer sich dem System nicht unterordnen kann oder will, wird schnell fallen gelassen, denn das Leistungsprinzip steht über allem.

Morins Eltern (Marlene Morreis, Frederic Linkemann) sind deshalb zunächst überglücklich, dass ihr Sohn die Aufnahmeprüfung an einer Eliteschule bestanden und damit die besten Zukunftschancen hat. Vater Steven weiß, was es bedeutet, nicht mehr gebraucht zu werden. Der Programmierer wurde gerade dazu gezwungen, seinen eigenen Arbeitsplatz wegzurationalisieren und durch einen digitalen Avatar zu ersetzen. Die mitleidigen Blicke und die Sticheleien seines Umfelds setzen ihm zu, lassen ihn allerdings auch renitent werden. Mutter Katja ist eine ebenso ehrgeizige wie erfolgreiche Wissenschaftlerin; doch auch sie wird auf einer anderen Ebene von der Gegenwart eingeholt. Eine jüngere Kollegin hat ein viel pragmatischeres Verständnis von geistigem Eigentum und überflügelt sie mit ihren eigenen Erfindungen.

Aus einer kindlichen Perspektive

Die Konflikte in „Morin“ wirken auf den ersten Blick geradlinig, doch das Drehbuch von Hans-Ullrich Krause, Christian Görlitz und Almut Getto beobachtet neugierig und aufmerksam aktuelle Entwicklungen im Schulsystem, auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Bereich, ohne Technologien wie KI oder Genforschung zu vereinfachen oder zu pauschalisieren. Die daraus resultierenden gesellschaftlich-moralischen Implikationen hinterfragt der Film auf ganz persönlicher Ebene aus Morins zwar auf Linie gebrachter, aber doch noch kindlicher Perspektive. Damit gelingt „Morin“ eine schlaue Versuchsanordnung, die verschiedene, teils gegenläufige Wertesysteme miteinander interagieren lässt.

Morin ist nach einem anspruchsvollen Auswahlverfahren auf der „Junior Academy“ eines Raumfahrtunternehmens angenommen worden. Das Schulsystem ist in dieser „Near-Future-Welt“ also nicht nur privatisiert, sondern von der Wirtschaft finanziert und nach deren marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert. Konzerneigene Akademien machen Bildung zum Privileg und Bildungsgerechtigkeit zur Worthülse, die Menschen nach marktwirtschaftlichen Kriterien bewertet, einstuft und letztlich nach ihrem Nutzen kategorisiert. Dass Morins Kindheitsfreundin Charlie den Sprung in die Elite nicht geschafft hat, ist deshalb auch schnell vergessen, und die Freundschaft droht zu zerbrechen.

Der eigene moralische Kompass

Jede gemeisterte Aufgabe an der Akademie, jeder Einsatz und jede Idee bringen Punkte, die wie in einem Computerspiel oder der freien Marktwirtschaft für eigene Projekte ausgegeben werden können. Das hat zur Folge, dass die Kinder für jede Aktivität im Team auch eine Gegenleistung erwarten. Hilfsbereitschaft ist kein selbstloser Wert mehr, sondern eine Währung. Als Morin dem auf der Kippe stehenden Blue hilft, ohne von ihm Punkte zu bekommen, ist er hin- und hergerissen zwischen Freundschaft und dem Druck, den Kommilitonen auch als Konkurrenten zu sehen. Ist der Misserfolg anderer automatisch ein eigener Erfolg, und kann man damit zufrieden sein? Ist ein Beitrag jenseits von Selbstoptimierung, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit noch möglich? „Morin“ stellt unbequeme Fragen, die persönliche Emotionen, zwischenmenschliche Regeln und gesellschaftliche Anforderungen in ein Spannungsverhältnis setzen. Über alldem steht die unausgesprochene Frage: „Wann sind wir genug?“

Im Detail gerät das Raumfahrt-Szenario (Regie: Almut Getto) bisweilen etwas hölzern, wenn etwa die Kinder in der Akademie Tech-Talk betreiben und die Darsteller:innen quantenphysikalische Dialoge aufsagen müssen. Doch Morins persönliches Dilemma wird trotzdem greifbar, jenseits von Schwarz-weiß-Malerei und Frontenbildung. Er muss letztlich eine ganz individuelle Antwort auf die Frage finden, welche Wertvorstellungen er mittragen will und welche zwischenmenschlichen Opfer er zu erbringen bereit ist. Dabei wird deutlich: Eltern, Freunde, Lehrer müssen hier behilflich sein und die Optionen und deren Folgen nicht nur erklären, sondern auch die eigene Agenda offenlegen. „Morin“ macht damit aus aktuellen Debatten um die Einbettung von neuen Technologien in die Gesellschaft eine Suche nach ganz persönlichen menschlichen Faktoren, die von Maschinen und Avataren nicht ersetzt werden können.

Skulpturen eine Seele einhauchen

Zu Beginn schaut Morin noch verständnislos, als seine Oma Ida ihm auf die entgeisterte Frage nach dem Zweck ihrer Skulpturen erklärt, sie wolle ihnen eine Seele einhauchen. Das sei der Zweck von Kunst. Im Laufe des Films lernt er jedoch, was sie damit meint und welche Werte ihm jenseits von Leistung und Nutzen wichtig sind.

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