Das Kind droht zu ertrinken. Trotz seiner Schwimmflügel zieht es den Jungen unter Wasser. Kurz taucht er auf, gurgelt nach Hilfe. Seine Mutter hört ihn nicht, will ihn nicht hören. Sie zieht an ihrer Zigarette, während der Junge untergeht. Doch der Junge, der einmal „der Müllmann“ sein wird, stirbt nicht. Als die Mutter seinem Leben längst den Rücken gekehrt hat, rettet er sich doch aus dem Pool, zurück in ein Dasein, das nur Schmerz und Blut kennt.
Etwa dreißig Jahre später ist der Junge, der allein aus dem Pool kletterte, ein Mann geworden. Sein Kopf ist bis auf die Augenbrauen kahl rasiert. Eine tiefe Einkerbung an der Seite des vernarbten, haarlosen Schädels erinnert an die Gräuel der Kindheit, während Metzgerschürze und Chemikalien die Gräuel der Gegenwart ankündigen. In seinem Kopf hört der Müllmann (Gabriel Montesi) noch immer die Stimme des Stiefvaters. Des Mannes, der ihn seine Kindheit über folterte, seinen Kopf in einen Schraubstock spannte und ihm Zähne mit der Zange zog.
Vom Trauma zur Babarei
„Das Böse ist ein Kreis“, heißt es in Donato Carrisis „Ich bin der Abgrund“. Die Filmadaption des gleichnamigen Romans aber zeichnet zunächst keinen Kreis, sondern zieht eine direkte Kontinuitätslinie vom Trauma zur Barbarei. In der Gegenwart ist es der Müllmann, der andere foltert und umbringt. Immer der Stimme des Stiefvaters folgend, setzt er Prostituierte in Nachtclubs unter Drogen, tötet sie und entsorgt ihre Leichen. Die Details der Tat bleiben, wie die der Kindheitsfolter, nur angedeutet, Vorbereitung und Nachgang werden dagegen akribisch auserzählt, bedienen das Klischee des perfektionistischen Serienmörders und werden musikalisch von einer leicht verfremdeten Version von „Für Elise“ unterstrichen.
Abseits dieser Klischees, der inneren Monologe und pedantischen Handgriffe bietet Carrisis Film leider nicht viel. Die Sequenzen, die offenkundig entlang der elliptischen Kapitelstruktur eines Romans sortiert sind, scheinen, ähnlich wie die Figuren, frei nebeneinander zu schweben, keinerlei Verbindungen zu vorigen Ereignissen, irgendeiner Idee von Soziosphäre oder dramaturgischen Zuspitzungen zu haben. Doch traum- oder albtraumhaft möchte der Film eben auch nicht sein. „Ich bin der Abgrund“ ist nicht nur als surreales Porträt eines Serienmörders, sondern eben auch als Krimi angelegt.
„Die Mutter“ ermittelt
Nicht die Ermittler der Polizei stehen dabei im Vordergrund, sondern „die Mutter“ (Michela Cescon) oder auch „die Fliegenjägerin“ (wie sie in den Credits genannt wird). Jahre nachdem ihr Sohn wegen eines von Frauenhass motivierten Mordes verhaftet wurde, steht sie für andere Frauen, die Gewalt durch Männer erfahren, ein. Von der örtlichen Polizei belächelt und bemitleidet, ist sie diejenige, die durch eine Reihe hanebüchener Zufälle und dank des ihr eigenen Talents, die patriarchale Welt um sie herum recht erfolgreich zu nerven, zu piesacken und zu triezen, der es gelingt, dem Müllmann auf die Schliche kommt.
Ein Mädchen mit lila Haarsträhne (Sara Ciocca), die dritte Hauptfigur, schließt den thematischen Kreislauf des Bösen – zumindest auf dem Papier. Sie ist das zweite Kind, das ertrinkt. Ausgerechnet der Müllmann vereitelt ihren Selbstmordversuch. Mit ihrer zweiten Chance auf ein Leben setzt sich die zyklische Bewegung von Traumata und Gräueln fort. Das Mädchen wird in die Prostitution gezwungen. Im Film steht ihre Leidensgeschichte – wie der gesamte Film scheint sie an der elliptischen und verworrenen Struktur des Romans zu hängen und wird entsprechend nie ergründet – als permanente „und dann“-Erzählung quer zu jeglicher Idee von Spannung entwickelt, die bei der Suche nach dem Serienmörder entstehen sollte. Dass selbst auf thematischer Ebene die Rädchen nicht ineinandergreifen wollen, ist wohl weniger dem Gesamtkonstrukt der Geschichte geschuldet, als der generellen Unbeholfenheit, mit der Carrisi sie in einen Film zu übersetzen versucht. Die Kamera gerät mit der Welt aus dem Gleichgewicht, versucht, die fehlende Spannung in der ständigen Neigung zu finden, lässt sich dabei andauernd von der Sonne blenden und versucht, flache Bilder hinter immer neuen Filtern zu verstecken.
Oft dienen Carrisis Worte als Stütze für das im besten Falle experimentelle, aber nichtssagende Bildrepertoire. Lange innere Monologe bringen Kontext in die unnötig verschachtelte Geschichte, behaupten mit Worten das Innenleben, das die Bilder nicht zeigen. Carrisi adaptiert, indem er der eigenen Vorlage hinterherrennt – ohne sie je zu fassen zu kriegen.