Dokumentarfilm | Frankreich/Hongkong/Niederlande 2021 | 91 Minuten

Regie: Zhao Liang

Der chinesische Regisseur Zhao Liang besucht fünf Orte, die mit der Nutzung von Atomkraft zusammenhängen, darunter Tschernobyl und Fukushima. Von der Bildgewalt der nuklearen Katastrophen schwenkt der Filmemacher zu verwaisten Plätzen sowie zu einfachen Menschen über, die nahe den Kraftwerken leben und aus erster Hand von deren fatalen Folgen berichten. Seine in Off-Kommentaren ausgedrückte Haltung ist dabei aufrüttelnd und ermahnend mit Blick auf die Menschen und ihr Verhalten, sodass der Dokumentarfilm zum hochpoetischen, eindringlichen filmischen Klagegedicht mit eindrucksvollen Bildern wird. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
I'M SO SORRY
Produktionsland
Frankreich/Hongkong/Niederlande
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Zhao's Image Prod./Les Films d'Ici/arte/CNEX/Muyi Film
Regie
Zhao Liang
Buch
Zhao Liang · Sylvie Blum
Kamera
Zhao Liang · Sun Shaoguang
Musik
Mikael Plunian
Schnitt
Fabrice Rouaud
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Ein melancholisch-poetischer Doku-Essayfilm über die Kernkraft und die verheerenden Folgen, die ihr Einsatz für die Menschen und die Natur gehabt hat.

Diskussion

Die Orte und die Landstriche, die Dörfer, Siedlungen, Wälder, Felder, Steppen, um die es in Zhao Liangs „I’m So Sorry“ geht, sind fast ausnahmslos mit Warntafeln markiert. Es sind Places not to be – verbotene Orte –, die infolge eines Unglücks oder einer Katastrophe durch radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlen verseucht sind. Es sind dies meist verlassene Orte, oder gar Un-Orte, an denen die DNA des Lebens derart durcheinandergeraten ist, dass den Menschen das Verbleiben und Verweilen nicht zu empfehlen ist. Ihre Namen – Fukushima, Tschernobyl, Ende, Greifswald, auch den des finnischen Onkalo und des in Weißrussland gelegenen Vesnova – kennt man aus aufgeregten Zeitungsberichten, Radio- und Fernseh-Nachrichten der letzten Jahrzehnte.

Im Film von Zhao Liang sind diese Orte auch gespenstische Orte, bewohnt von Geistern, die zwischendurch in maskierter Gestalt figürlich in Erscheinung treten. Obwohl „I’m So Sorry“ sich als Dokumentarfilm deklariert, ist er als Elegie zu bezeichnen: ein filmisches Klagelied oder Klagegedicht, hochpoetisch, in bedächtigem Erzähltempo verdichtet und, wenn man genau hinhört, auch verfremdet, zudem leise magisch aufgeladen. „Die Gespenster, die der Mensch geschaffen hat, werden ihn überleben“, heißt es in Zhao Liangs Film. Die betörende Schönheit seiner Bilder unterstreicht die ihm innewohnende Tristesse. Die Frage, wer es ist, der sich da im Titel beklagt, sich für etwas entschuldigt oder etwas bedauert, bleibt offen.

Was in Flammen aufgehen kann

„I’m So Sorry“ beginnt mit einer Zusammenstellung von Aufnahmen zur Explosion gebrachter Atombomben. Mit Bildern von in gewaltiger Schönheit gegen den Himmel steigenden Atompilzen. Und mit Bildern von durch die dabei entstehenden Druckwellen ausgelösten heftigen Windstöße, die über die Erde fegend mitreißen, was nicht niet- und nagelfest ist, und in Flammen aufgehen lassen, was in Flammen aufgehen kann. „Ihr habt gesagt, die ‚sauberste und sicherste Energieform‘, und dass diese den Menschen eine ‚rosige Zukunft‘ bescheren werde“, heißt es im Off-Kommentar des Films. Verfasst von Zhao Liang und Sylvie Blum, kommentiert dieser nicht nur im Bild Gezeigtes, sondern regt auch an zu einem Diskurs, der darüber hinaus auf des Menschen Verhältnis und seinen Umgang mit der Erde und dem darauf zur Verfügung stehenden (beschränkten) Lebensraum verweist.

Nach dem Titel findet „I’m So Sorry“ zu seinem eigentlichen Thema. Es ist nicht die durch die Zündung von Atombomben willentlich herbeigeführte Zerstörung, sondern die durch fatale Naturereignisse wie Erdbeben oder menschliche Unachtsamkeit – Unvernunft, Überheblichkeit und Gier – ausgelöste nukleare Katastrophe. Dieser „vom Menschen selber geschaffene, unsichtbare Feind“, der ihm überall dort auflauert, wo mit Kernkraft gearbeitet wird. Das volle Ausmaß der herbeigeführten Verheerung ist dem Menschen in letzter Konsequenz kaum vorstellbar.

Orte, die man nicht betreten sollte

Zhao Liang betreibt in „I’m So Sorry“ eine Art Inaugenscheinnahme. Er begibt sich an Orte, die man (ungeschützt) nicht betreten sollte. Er besichtigt Hallen, in denen radioaktiv verseuchte Materialien lagern. Eine Fabrik, in der radioaktiv kontaminierter Bodenaushub gereinigt wird. Er besucht stillgelegte und zerstörte Kernkraftwerke. Vor allem aber durchforscht er nach atomaren Katastrophen zu Sperrzonen erklärte Gebiete. Im Film zu sehen sind der UrbEx (Urban Exploration) zuzuordnende Bilder von bizarr-faszinierender Schönheit, in denen die Zeugnisse einst munteren, aber abrupt zum Stillstand gekommenen menschlichen Lebens zunehmend verschlungen werden von der Flora, die sie unkontrolliert überwuchert.

Konkret zu sehen sind: ein tiefblauer Atom-See in der Einöde der kasachischen Steppe. Verwachsene Wege und Straßen im Sperrgebiet von Tschernobyl. Halbzerfallene Häuser, umschlungen und durchdrungen von Bäumen und Sträuchern. Verlassene Schulzimmer, in denen liegengebliebene Schulranzen vermodern, ein leergefegtes Casino, in dem Wasser tropft. Ein Kinderspielplatz und ein Vergnügungspark, dessen unbenutztes Inventar geduldig vor sich hin rostet. Stehengelassene Autos, überwuchert von Pflanzen. Verlassene Wohnungen, in die nie jemand zurückgekehrt ist, um die Unordnung der letzten Mahlzeit aufzuräumen. Ein irgendwo vom Wandtelefon baumelnder Hörer, der von überstürztem Aufbruch zeugt.

Das verschwundene Leben auf der Tonspur

Das alles wäre vielleicht weniger beeindruckend, wenn Zhao Liang auf der Tonspur nicht das einbrächte, was in diesen Bildern stumm bleibt: das aus ihnen verschwundene menschliche Leben. Menschenstimmen und Kinderlachen, Geräusche von Spielautomaten, das Freizeichen des Telefons. Immer wieder zu hören ist auch – mal leiser, mal lauter – das Knattern des Geigenzählers, der hier sozusagen den Takt angibt. Subtiler lässt sich der Horror Vacui – diese „Angst vor der Leere“, die sich immer durch eine Absenz, das Nicht-Vorhandensein von etwas definiert, – in einem Film kaum darstellen.

Doch auch das gelingt Zhao Liang in „I’m So Sorry“. Denn er zeigt darin nicht nur Schauplätze atomarer Katastrophen, sondern auch von diesen Katastrophen direkt Betroffene sowie Menschen, die sich berufshalber mit deren Folgen beschäftigen.

Arbeiter in dicken Schutzanzügen, die im Versuch, das Gebiet zu dekontaminieren, unweit von Fukushima Bäume fällen, Grasnarben abheben und verseuchte Erde abtragen. Andere Arbeiter, ebenfalls in Schutzanzügen, die das KKW von Greifswald Stück für Stück zerlegen. Doch es gibt in „I’m So Sorry“ auch Menschen, die keine Schutzanzüge tragen. Das nicht mehr junge Paar Herr und Frau Matsumoto, das in den sieben Jahren nach der Katastrophe von Fukushima achtmal umziehen musste und noch immer in einer Notunterkunft haust. Eine Frau mittleren Alters, deren nicht fern von Tschernobyl liegendes Dorf mangels Finanzen von der Evakuierungsliste gestrichen wurde und der damals nicht bewusst war, dass man sich nicht verlieben und noch weniger ein Kind zeugen sollte, wenn man der Verstrahlung ausgesetzt war. Ivan Semenyuk, der irgendwann in sein Haus in der Speerzone von Tschernobyl zurückgekehrt ist, und Maria Shoukuta, die es in einem anderen Dorf genauso machte.

Sie habe, sagt Shoukuta, anfänglich gedacht, es würden alle irgendwann wieder ins Dorf zurückkehren. Inzwischen aber lebt sie seit über dreißig Jahren allein dort. Sie redet die ganze Zeit mit sich selbst, sagt aber auch, dass das Alleinsein und die Einsamkeit manchmal kaum auszuhalten seien, dass weit und breit kein Arzt sei und sie eigentlich nur noch auf den Tod warte.

Gespenster in Sperrzonen

Semenyuk und Shoukuta sind hochbetagt und wirken im Film wie aus der Zeit gefallen. Zhao Liang beobachtet sie und ihre vom Leben gezeichneten Gesichter in minutenlangen Takes, die unterlegt sind mit bei anderer Gelegenheit geführten Gesprächen. In diesem Auseinanderklaffen von Bild- und Ton-Information steckt ein irritierendes Moment der Verfremdung, das diese illegal in der Sperrzone hausenden Menschen sozusagen zu ihren eigenen Gespenstern werden lässt.

Doch Zhao Liang zeigt in „I’m So Sorry“ nicht nur direkt Betroffene, sondern auch Nachgeborene. Junge Aktivisten, die in Deutschland die Stilllegung von Kernkraftwerken fordern, und andere, die in Tokio auf die Straße gehen, weil sie nicht möchten, dass stillgelegte Kernkraftwerke in Japan wieder ans Netz genommen werden. Und dann sind da auch noch die Insassen eines Waisenheims von Vesnuva. Es sind Kinder von Menschen, die durch den Reaktorunfall von Tschernobyl radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Ihre Körper sind verformt. Sie können sich eigenständig nicht fortbewegen, nicht sprechen, allein nicht essen. Sie liegen in einem Saal in ihren Betten oder sitzen in nebeneinander aufgereihten Rollstühlen oder Kinderwagen vor dem Heim Spalier. Ihre Chance, je einmal eigenständig durchs Leben zu gehen, ist null.

„I’m So Sorry“ ist – wie eigentlich alle Dokumentarfilme des Chinesen Zhao Liang – von faszinierender Bildergewalt und mutig in seiner Analyse und der damit einhergehenden Kritik an den Menschen und ihrem Verhalten. Sie äußert sich in Passagen wie derjenigen, in der sich gegen Ende des Filmes über die Bilder eines beim Kirschblütenfest in Fukushima abgehaltenen Feuerwerks folgende im Off gesprochene Gedanken legen: „Ist dieses Feuerwerk, dessen Schönheit so vergänglich ist wie die der Kirschblüten, Symbol für das Leben?“ Und: „Die Menschen haben schon immer gern das Unglück zelebriert. Die schönen Festtagskleider sind noch nicht abgelegt.“

Wenn es einen Film gibt, den Kernkraft-Befürworter und -Gegner gleichermaßen dringend anschauen sollten, dann ist es dieser.

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