Brief History of a Family

Drama | China/Frankreich/Dänemark/Katar 2024 | 99 Minuten

Regie: Jianjie Lin

Der Sohn einer wohlhabenden chinesischen Familie freundet sich mit einem Halbwaisen aus zerrüttetem Elternhaus an. Der neue Freund fügt sich bald so gut in das bourgeoise Familienidyll ein, dass die Eltern ihn wie ein Adoptivkind behandeln und der eigentliche Sohn zunehmend an den Rand gedrängt wird. Der zunächst als Thriller erzählte Film lässt die im Raum schwebende Bedrohung nie ganz konkret werden. Stattdessen formt er die Geheimnisse der Familie und des Jungen, der in sie aufgenommen wird, zu einer recht ungelenken Allegorie der elterlichen Erwartungshaltung. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JIA TING JIAN SHI
Produktionsland
China/Frankreich/Dänemark/Katar
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
First Light Pictures
Regie
Jianjie Lin
Buch
Jianjie Lin
Kamera
Jiahao Zhang
Musik
Toke Brorson Odin
Schnitt
Per K. Kirkegaard
Darsteller
Zu Feng (Tu Weis Vater) · Sun Xilun (Yan Shuo) · Ke-Yu Guo (Tu Weis Mutter) · Muran Li
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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IMDb

Drama um eine chinesische Mittelstandsfamilie, deren unausgesprochene Gefühle und Erwartungen ans Licht kommen, als ihr Sohn einen Freund mit nach Hause bringt.

Diskussion

Shuo (Sun Xilun) und Wei (Lin Muran) spielen ein Take-Away-Spiel. Zehn Münzen liegen auf dem Tisch. Beide dürfen entweder eine oder zwei auf einmal nehmen. Wer die letzte Münze einsammelt, gewinnt. Shuo muss anfangen. Und verliert. Doch Shuo hat den Trick im zweiten Durchgang längst verstanden. Er lässt Wei die nächste Runde beginnen und wendet das Blatt. Shuo ist der schlauere der beiden Freunde, die sich erst vor Kurzem kennengelernt haben; er findet sich auch sehr schnell in fremder Umgebung zurecht. Auf den ersten Blick ist Weis Elternhaus exakt diese Umgebung. Ein luxuriöser Neubau, der seine elegante und kalte Symmetrie nackter Wände mit opulentem Holzdekor und teurem High-Tech-Gerät ausbalanciert. Die Tu-Familie ist erfolgreich und kultiviert.

Nur der Sohn hinkt den Standards hinter, die vor allem der Vater (Zu Feng), ein angesehener Biologe, setzt. Weis Leistungen reichen nicht aus für die Karriere, die der Vater für den Sohn im Sinn hat. Wei ist ein klassischer Teenager: Er liebt Videospiele, hasst Hausaufgaben und hat wenig Interesse an Karrierepfaden. Es ist der Neuankömmling aus so ärmlichen wie tragischen Verhältnissen, der dem Idealbild entspricht, das die Familie sich offensichtlich herbeisehnt.

Er wickelt die Familie um den Finger

Shuo kennt weder Videospiele, noch bietet sein Zuhause wirklich Zeit für Hobbies. Die Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, der Vater trinkt und schlägt Shuo. Als er das erste Mal bei der neuen Familie zum Essen eingeladen ist, füllt er seine Schüssel nur mit dem, was von daheim kennt: Reis und Sojasauce. Hingegen kennt er das „Wohltemperierte Klavier“, praktiziert Kalligrafie, statt Videospiele zu spielen; und er ist ein Ausnahmeschüler, der sich für Hochkultur interessiert und damit so ziemlich das Gegenbild des Freundes darstellt, der in dem Familiengefüge einen zunehmend schweren Stand hat.

Shuo wickelt die Tus um den Finger. Die Mutter (Guo Keyu) offenbart ihm sehr persönliche Dinge, der Vater nimmt sich im allzu geschäftigen Alltag Zeit, ihn in der Kunst des schönen Schreibens zu unterrichten. Die Absichten des Jungen, der so geschickt wie scheinbar natürlich ein Teil der Familie wird, bleiben zunächst unklar. Nie folgt der Film ihm in das eigene, zerrüttete Elternhaus. Zunehmend drängt sich die Frage auf, ob Shuo tatsächlich aus den Verhältnissen stammt, von denen er erzählt. Mit den Zweifeln schleicht sich der Thriller in „Brief History of a Family“ ein. Fast fühlt sich die Präsenz des enigmatischen, Quasi-Adoptivsohns an wie eine nie ganz konkret werdende Bedrohung. Das bourgeoise Familienidyll offenbart seinerseits zunehmend beunruhigende Dynamiken zwischen Eltern und Sohn.

Der eigene Sohn hat einen schweren Stand

Regisseur Lin Jianjie lässt den angedeuteten Thriller aber nie konkret werden, sondern formt die Abgründe, die sich im Familienleben andeuten, und Shuos undurchsichtige Absichten vielmehr mit ostentativ symbolischer Bildsprache zu einer reichlich sperrigen Allegorie. Im Haus der Familie setzen die Bilder von Zhang Jiahao den Adoptivsohn zunehmend an den Platz des Bruders oder werfen seine Silhouette über dessen Stuhl – ein Sohn steht im Schatten des anderen. Wo sich der Blick der Kamera doch einmal zuspitzt, zeigt die Nahaufnahme nicht etwa ein Gesicht, sondern blickt durch ein Mikroskop: Blutkörperchen drängen an einem Gerinnsel vorbei, ein Organismus bahnt sich seinen Weg, um schließlich in eine Zelle einzudringen.

Im bald von den „Brüdern“ geteilten Kinderzimmer gibt es das dazugehörige realweltliche Gegenbild: Wei möchte schlafen, Shuo aber liest noch und möchte das Licht nicht ausschalten. Das Licht geht an und wieder aus, im Wechsel aus Licht und Dunkelheit treten Shuo und Wei weiter und weiter aufeinander zu. Etwas Neues ist eingedrungen, das das Alte für immer verändert. Welcher der beiden Organismen von der Veränderung profitiert, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden.

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