Alle meine Geheimnisse

Kinderfilm | Südkorea 2022 | 117 Minuten

Regie: Lee Ji-eun

Ein 12-jähriges Mädchen schämt sich für seine Familie, die für ihr Auskommen hart arbeiten muss und in der ein rauer, abschätziger Ton herrscht. Es erfindet deshalb eine Vorzeigefamilie und versucht, in der Schule die Anerkennung zu bekommen, an der es ihr zuhause mangelt. Doch das Lügenkonstrukt steht auf wackligen Beinen. Der südkoreanische Kinderfilm punktet mit einer vielschichtig-ambivalenten jungen Hauptfigur und einem Sinn für kleine Gesten und Zwischentöne. Andere Charaktere, vor allem die Eltern, geraten dagegen etwas holzschnitthaft. Gegen Ende hätten die Inszenierung auch mehr Verdichtung vertragen. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
BIMILEUI EONDEOK
Produktionsland
Südkorea
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Ohspring Film
Regie
Lee Ji-eun
Buch
Lee Ji-eun
Kamera
Lee Ju-hwan
Musik
Yonrimog
Schnitt
Won Chang-Jae
Darsteller
Moon Seung-a (Myung-eun) · Jang Sun (Kyung-hee) · Lim Sun-woo (Ae-ran) · Kang Gil-woo (Sung-ho) · Lee Dong-chan (Gi-nam)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Kinderfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Plaion
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Eine 12-jährige Koreanerin schämt sich für ihre Familie und erfindet eine Traumfamilie, mit der sie in der Schule die Anerkennung zu bekommen versucht, an der es ihr zuhause mangelt.

Diskussion

Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Unter dieser Tatsache leidet auch die 12-jährige Myung-eun. Sie ist ein sensibles Mädchen, das seine Umwelt sehr genau wahrnimmt, selbst kleinsten Details Aufmerksamkeit schenkt und mit Bedacht ein Geschenk für seine Lieblingslehrerin Frau Kim auswählt: Soll es eine Tasse sein? Oder ein Bilderrahmen? Soll das Päckchen eine rosa oder doch lieber eine goldene Schleife schmücken? Alles will gut überlegt sein. In den Augen ihrer Mutter ist so viel Aufwand reinste Zeitverschwendung. „Gib nichts und lass dir nichts geben“, antwortet sie auf die Frage ihrer Tochter nach dem Familienmotto. Sie ist eine brüske Frau, die selten ein gutes Wort für ihre Tochter übrighat, ihrem Sohn nähersteht, beim Abendessen über ihren Mann herzieht und das Gefühl hat, immer zu kurz zu kommen. „Wir haben es schon immer schwer gehabt“, haut sie ihren Kindern um die Ohren, „schon bevor ihr auf der Welt wart!“

Wenn bloß die Eltern vorzeigbarer wären!

Wenn in ihrer Klasse über die Berufe der Eltern gesprochen wird, möchte Myung-eun am liebsten unsichtbar werden. Denn während ihre eigenen auf dem Markt gepökelten Tintenfisch oder Rogen verkaufen, sind die Mütter und Väter ihrer Mitschüler Hausfrauen, Büroangestellte oder Professoren. Ihre Eltern dagegen laufen in ausgebeulten Hosen und Gummistiefeln herum, sind weder elegant noch erfolgreich – und ihr deswegen so peinlich, dass sie sich kurzerhand eine Vorzeigefamilie ausdenkt, damit sie vor ihrer Klasse und ihrer Lehrerin gut dastehen und Klassensprecherin werden kann.

Dass das Lügenkonstrukt keinen Bestand haben kann, liegt auf der Hand. Doch es kommt weniger zu einem handfesten Eklat. Vielmehr beginnt für Myung-eun eine Entwicklung, an deren Ende so etwas wie Emanzipation steht, vor allem von gesellschaftlichen Erwartungen, wie ein Mensch oder eine Familie zu sein hat.

Dabei erscheint Myung-eun als Hauptfigur durchaus ambivalent: Sie erzählt Geschichten, sie schleimt sich bei der Lehrerin ein, ist manchmal berechnend. Zugleich ist sie zugewandt, hilfsbereit und engagiert – als Klassensprecherin richtet sie einen „geheimen Briefkasten“ für die Wünsche und Probleme der Kinder ein, damit man gemeinsam Lösungen finden kann, was den positiven Nebeneffekt hat, dass ihr Ansehen in der Klasse und bei der Lehrerin steigt. Das Mädchen sucht in der Schule die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die es zuhause nicht bekommt. Es ist nicht nur Scham, die Myung-eun zur Lügnerin werden lässt, sondern auch eine tiefe Sehnsucht: nach einer liebevollen Familie, nach einem „Gesehen-werden“. Doch zunehmend merkt sie, dass die Kluft zwischen Realität und Traum weit auseinanderklafft.

Einige erscheinen wie Karikaturen

Die südkoreanische Regisseurin und Drehbuchautorin Lee Ji-eun hat ihren Debütfilm, der 2022 im Kinderprogramm der Berlinale lief, mit einem Blick für kleine Gesten inszeniert und mit Sinn für Zwischentöne: Als Myung-eun einmal in der Schulbibliothek einen großen Stapel Bücher bunkert, gibt sie bereitwillig eins davon einer Lehrerin, als sie bemerkt, dass diese ein Buch zum Thema Depression bei sich trägt. Auch die Erwachsenen haben ihre Geheimnisse, Wünsche und Schwächen und taugen nicht immer als Vorbilder: Die Lehrerin Frau Kim kommt immer zu spät und gibt einmal eine gute Idee ihrer Schülerin als ihre eigene aus, um beim Direktor zu punkten. Dieser platzt fast vor Stolz, dass Myung-eun bei jedem Schreibwettbewerb einen Preis gewinnt.

Zugleich hämmert die Regisseurin aber andere Figuren recht brachial zurecht. Myung-euns Mutter ist meist biestig, ihr Vater luschig, und beide sind somit mehr Karikaturen als Charaktere. Die zwei neuen Mitschülerinnen, die Myung-eun zunächst als Konkurrentin empfindet, haben eine Mutter, die ein Bordell betreibt. Deshalb sind sie bislang an jeder neuen Schule wie Aussätzige behandelt worden. Doch im überdeutlichen Gegensatz zur Hauptfigur verheimlichen sie nicht ihren familiären Hintergrund, sondern reagieren mit schonungsloser Ehrlichkeit und radikaler Akzeptanz. Wenn gegen Ende ein neuer Lehrer auftaucht, der sich nicht für die Berufe der Eltern, sondern vielmehr für die Kinder selbst interessiert, zeichnet sich in der überlangen Inszenierung endlich auch ein wenig Gesellschaftskritik ab, bevor die Geschichte ihrem Ende entgegenplätschert. Sie hasse ihre Familie, gesteht Myung-eun einmal ihrer Lehrerin. Doch merkt sie plötzlich, dass diese ihr doch etwas bedeutet – man versteht nur nicht ganz warum.

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