Das rote Eichhörnchen

- | Spanien 1993 | 110 Minuten

Regie: Julio Medem

Eine junge Frau verliert bei einem Motorradunfall ihr Gedächtnis und wird von ihrem Retter als seine langjährige Freundin ausgegeben. Auf dieser Lüge baut sich eine Beziehung auf, die der Film in ein irritierendes Puzzle aus Alltäglichem, Mysteriösem, Poesievollem und Surrealistischem verwandelt. Ein von einer überragenden Hauptdarstellerin getragenes, mit verstörenden Bildern von großer Schönheit und Tiefe inszeniertes Schicksalsdrama. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA ARDILLA ROJA
Produktionsland
Spanien
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Sogetel
Regie
Julio Medem
Buch
Julio Medem
Kamera
Gonzalo Berridi
Musik
Alberto Iglesias
Schnitt
Elena Sainz de Rozas
Darsteller
Emma Suárez (Lisa) · Nancho Novo (Jota) · María Barranco (Carmen) · Karra Elejalde (Anton) · Carmelo Gómez (Felix)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Schon die Titelsequenz, eine Kamerafahrt durch eine trübe Unterwasserlandschaft, übt einen irritierenden Sog aus, ohne daß man sich dieses Gefühl rational erklären kann. Ein paar Einstellungen später wird der von seiner Geliebten verlassene Rockmusiker Jota wie magisch von der nächtlichen Brandung des Atlantiks angezogen. Während er noch mit sich ringt, seinem Leben ein Ende zu setzen, prallt neben ihm ein Motorrad gegen das Geländer, und die Fahrerin stürzt auf den Sandstrand. Jota eilt ihr zu Hilfe und erkennt, daß sie relativ unverletzt davongekommen ist, aber infolge des Schocks ihr Gedächtnis verloren hat. Sie erinnert sich nicht einmal an ihren Namen. Schon ihre erste Konversation endet mit einer Lüge, als er ihr erzählt, ihre Augen seien blau, während man in haselnußbraune blickt. Die Lüge wird nun zum Bindeglied zwischen den beiden: Jota gibt im Krankenhaus an, sie heiße Lisa Fuentes und sei arbeitslos. Ihr gegenüber spielt er den langjährigen Freund. Gemeinsam fahren sie in einen angeblich schon lange geplanten Urlaub an einen Bergsee, auf den Campingplatz "Das rote Eichhörnchen". Mit diesen possierlichen Tieren verbindet Lisa eine fast magische Beziehung. Jota und Lisa freunden sich mit ihren Zeltnachbarn, dem Taxifahrer Anton, seiner Frau und den beiden Kindern, an - und verstricken auch sie in das Lügengebilde. Langsam kehrt Lisas Erinnerung zurück, und sie fühlt sich in ihren Visionen von einem Mann verfolgt, der sich als ihr Ehemann Felix entpuppt. Sie hatte ihn zwei Wochen vor dem Unfall verlassen, als sich herausstellte, daß er vier Menschen überfahren und Fahrerflucht begangen hatte. Auch Jota erinnert sich an die Trennung von Eli, die ihn in tiefe Depressionen gestürzt hatte. Als über Radio nach einer "Geistesgestörten" namens Sofia Fuentes gefahndet wird, paßt die Beschreibung auf Lisa. Als Anton mißtrauisch wird, schiebt Jota die Suchmeldung auf Lisas angeblich psychopathischen Ex-Mann. Aber als dieser dann auf dem Campingplatz auftaucht, eskaliert die Situation, und man fragt sich, ob Lisa nicht kräftig an Jotas Lügengewebe mitgewebt hat.

Eine Szene gegen Ende des Films erscheint im nachhinein wie der Schlüssel zu all den verwirrenden Ereignissen, die wie losgelöst von Raum und Zeit, auf den Zuschauer einstürmen: Da betrachtet Jota in seiner Wohnung ein Foto von sich und Eli - und im Hintergrund läuft, lächelnd in die Kamera schauend, Lisa vorbei. Wie ein Hinweis auf das Schicksal, dem man nicht entrinnen kann. So kreuzen sich auf wundersame Weise nicht nur die Wege von Jota und Lisa. Der Mediziner, der Lisas Daten aufnimmt, und von dem Jota ihren Nachnamen "stiehlt", ist tatsächlich ihr Bruder. Aber diese Puzzle-Teile setzen sich erst im Laufe des Films zu einem Bild zusammen. Und doch bleibt ein Gefühl des Geheimnisvollen zurück, wenn die sich ständig überschneidenden Handlungsstränge plötzlich wie im Nichts verlaufen.

Der ehemalige Mediziner und Filmkritiker Julio Medem bombardiert den Zuschauer in seinem zweiten Spielfilm mit einer Flut von Metaphern und Symbolen, die in ihrer Komplexität nicht immer durchschaubar sind, aber durch die somit hervorgerufene Verstörung eine Spannung erzeugen, deren Ursache man ständig auf den Grund zu gehen versucht. Dabei korrespondiert die heile spießbürgerliche Welt des Campingplatzes mit dem Macho-Gehabe des Autonarren Anton, während sie durch das Auftauchen des sich dann mit einer Schere verstümmelnden Felix einen surrealen Touch bekommt, der sie wieder unwirklich erscheinen läßt. In diesem Spannungsfeld zwischen Alltäglichem und Mysteriösem, zwischen Poesie und schwarzem Humor entsteht ein dem Surrealismus wie dem Psycho-Drama gleichermaßen verpflichtetes Vexierspiel - getragen von einer Hauptdarstellerin, die von einer geheimnisvoll-erotischen Ausstrahlung umgeben ist, wie man sie aufregender schon lange nicht mehr im Kino sah. Neben Emma Suarez ist Julio Medem die große Entdeckung, der dem Zuschauer in einer Zeit glatter Bilder und uninteressanter Geschichten endlich wieder etwas zum "Sehen" und "Mitdenken" schenkt. "Das rote Eichhörnchen" ist ein kleines Meisterwerk, das Lust macht auf Julio Medems ebenfalls hochgelobten Debütfilm "Vacas" und seine weiteren Arbeiten.
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