Verhängnis/Fate

Drama | Deutschland 1994 | 79 Minuten

Regie: Fred Kelemen

Zwei heimatlose Menschen, ein Straßenmusikant und eine Frau, durchleben einen nächtlichen Albtraum, angereichert mit Alkohol- und Gewaltexzessen. Bar jeder Hoffnung auf ein friedliches Miteinander erleben sie den heranbrechenden Morgen als menschliches Strandgut. Ein äußerst streng gestalteter, thematisch wie formale bemerkenswerter Film, der den Zuschauer durch die Darstellung extremer Emotionen herausfordert. In der symmetrisch aufgebauten Geschichte wird das Drama von Menschen deutlich, die durch Leid ihre Sprache verloren haben.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
dffb
Regie
Fred Kelemen
Buch
Fred Kelemen
Kamera
Fred Kelemen
Musik
Valerij Fedorenko
Schnitt
Fred Kelemen
Darsteller
Sanja Spengler · Valerij Fedorenko
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Genre
Drama

Diskussion
Kelemen verweigert sich dem Stilideal der Glätte, der Gefälligkeit: grobkörniges Bild (von Video auf Film umkopiert), entsättigte Farben, monochrome Abschnitte, ununterbrochene Einstellungen, also Plansequenzen, die eine ganze Szene lang dauern und den Zuschauern das langsame, unverrückbare, unerbittliche Tempo der Echtzeit aufzwingen. Der Film versetzt die Handlung in eine schäbige Vorstadtsphäre, die man nicht gleich poetisierend als "Unterwelt" bezeichnen sollte, ein Revier für Reisende ohne viel Gepäck, displaced persons, auch für Liegengebliebende, Ausgegrenzte, Ausgestoßene. Zwei Heimatlose, Mann und Frau, Russen offenbar, Flüchtlinge, Randexistenzen, die ihr Leben fristen, unbürgerlich, ungesittet, verzweifelt, arm. Er spielt (virtuos) Akkordeon auf der Straße, sie prostituiert sich zu Hause. Sie sind Verletzte und verletzen einander, Opfer, dann wieder Täter, am Ende doch Opfer. Ein trauriger und bitterer Film, der aber nicht in Tristesse zerfließt, sondern eine erstaunliche ästhetische Kontrolle aufweist, im Artistischen sublim und zugleich von beunruhigender Spannung, radikal in der Wahl des Sujets und der Erzählweise- und doch ein Film für Zuschauer. Dies zu verbinden ist ein Kunststück. Kelemen ist es gelungen. "Verhängnis" nimmt sich im zeitgenössischen deutschen Film zwischen Komödie und Genre- Parodien wie ein unheimlicher schwarzer erratischer Felsen aus.

Als Exposition quasi dokumentarische Beobachtungen von Menschen, die darauf warten, daß sich ihr Leben ändert- und doch wenig Zukunft zu haben scheinen. Es ist Winterzeit, Strickmützen sind zu sehen, alte zerfurchte Gesichter, eine Frau die für die Kamera tanzt, dann ein interessanter intellektueller Kopf, dann ein junger Mann in der Reihe neben anderen Menschen, meist stumme und ratlose Gesichter, einige wie Tiere im Käfig, die zu lange dort verharrten und zu viele Gaffer sahen: müde und gleichgültig. Auch einige Liebespaare, eines hinter der Glasscheibe einer Kneipe, man versteht kein Wort, wenn denn Worte gewechselt werden. Das bleibt so im ganzen Film. Statt Reden: Aktionen, allenfalls fremde Vokabeln, Kommunikation will nicht gelingen. Die Figuren handeln, auf den ersten Blick erklärlich (ein wenig psychologische Einfühlung vorrausgesetzt), wie unter Zwang. Ein oft stummes Drama von Menschen, die über keine Sprache verfügen, in der sie andere erreichen oder besänftigen könnten.

Danach beginnt die Handlung in elf Szenen: Auf den unteren Stufen einer kurzen, schmutzig wirkenden Treppe spielt die männliche Hauptfigur auf ihrem Instrument, ein Sraßenmusikant. Ein Mann spricht ihn an, gibt ihm Geld, um ihn zu etwas zu bewegen, nimmt den Schein wieder zurück, überläßt ihn wieder- bis der Bestochene aufsteht und folgt. Selten ist der Akt der Verführung durch Geld so lapidar und raffiniert zugleich im Film vorgeführt worden. In der Wohnung des Fremden, der spanisch spricht, spielt der Russe, bis er müde ist. Da erpreßt ihn der andere- ein neuer Geldschein liegt auf dem Tisch-, eine ganze Flasche Wodka(?), umgefüllt in eine Wasserkaraffe, auszutrinken, in einem Zug und wirft ihn hinaus. Draußen ist es Nacht. Hineintaumelnd in das weite Bassin eines Springbrunnens, beginnt der Betrunkene zu stöhnen. In einer Überblendung sieht er unter dem Wasserspiegel einen Platz mit (tot?) hingestreckten Erwachsenen und Kindern. In einer Kneipe gewinnte er beim Billiard, steckt das Geld ein, fühlt sich bedroht und flieht durch eine Bahnunterführung. In einem dürftigen Mietshaus vor einer Wohnungstür angekommen, wird er nicht eingelassen. Eine Frauenstimme antwortet ihm. Er bricht die Tür auf, da steht ihm die Frau, beinahe nackt, ebenso ein nackter Mann gegenüber. Erregter Dialog in russischer Sprache. Er schlägt sie, zwingt mit einer Pistole den Dritten, die Wohnung zu verlassen. Als die Frau die Hand mit einer Waffe vorsichtig berührt, vermutlich in der Absicht, sie wegzuziehen, drückt er ab, aufgerührt, unbeherrscht, anscheinend versehentlich. Er verschwindet, läßt sie mit dem wahrscheinlich toten Kunden allein zurück, vor Entsetzen pinkelt sie auf den Boden. In der nächsten Einstellung rennt sie in Panik eine dunkle Straße entlang, über den Körper nur ein Mantel gerafft, stürzt, blickt in den Himmel: Lichtschleier vor dem Sternenzelt. Sie kommt in eine Kneipe, betrinkt sich, tanzt, stürzt, erhebt sich, wird vom Stuhl gezogen, wird von einem Mann betatscht und noch auf der Schwelle vergewaltigt. Schluß: nächster Morgen. Sie erwacht in einem Wald (in gleichsam mystischem Gelände), frierend, weinend, taumelnd. Im Hintergrund eine unwirtliche Industriekulisse. In der Nähe steht der Musikant, abgewand, dann schließt er sich ihr an, zwei Verwirrte und Versehrte entfernen sich auf dem Feldweg. Ein Bulldozer mit breiter Schaufel fährt hinter ihnen her, verschwindet wie sie hinter der Wegbiegung, hat sie gleichsam ,weggekehrt', das menschliche Strandgut. Die Sonne kommt heraus, wenn auch mit fahlöem Licht.

Ein fast symmetrischer Aufbau, Korrespondezen überall, Zeichen für eine überraschende strenge Formdisziplin: beide Protagonisten erleben eine Vergewaltigung, auch der Mann nämlich die Musik- und Trinkfolter des "Spaniers"; beide werden betrunken gemacht und mißbraucht; beide sind in Fluchtpassagen zu sehen, beide werfen jeweils einmal einen transzendierenden Blick: der Mann unter die Wasseroberfläche des Bassins, die Frau in den Nachthimmel; beide erleben scheinbare Eingemeindung und Gefahr in je einer Kneipe; beide sind beteiligt am Schuß auf den nackten Mann in der Wohnung (die Symmetrieachse der Handlung). Kelemen (Jahrgang 1964) hat nicht nur das Buch geschrieben und inszeniert, sondern auch die Kamera geführt und den Film geschnitten: eine außerordentliche Autorenfilmer- Leistung. Die Kamera ist wenig bewegt, unverwandt betrachtet sie die Figuren, manchmal beinahe starr, als gäbe sich so die Perspektive eines Augenzeugen zu erkennen, der anscheinend machtlos die Vorgänge verfolgt und doch den Blick nicht ablenken kann. Mit kalter Fasziniertheit ist die Sehweise nicht zu verwechseln. Die Schauspieler Sanja Spengler ind Valerji Fedorenko agieren, als währen sie ,authentische' Personen, präzise auch bei der Darstellung extremer Emotionen. Er ist ein ungebärdiger, in die Enge getriebener und gedemütigter Mensch, der schließlich überreagiert, weil er sich nichts mehr gefallen lassen will. Die Frau über den Rand ihrer Fassungskraft hinausgetrieben, scheint in der Not und Elend, zumal durch den Schock der Tötung, willenlos und widerstandslos geworden zu sein. Als gleißendes Licht über ihren nackten Torso fällt, das Objekt "schamloser" Begierde in der Kneipe, erinnert die Einstellung an Goyas Illustrationen von den Zerstörungen des Krieges, in dem auch der schöne Leib geschunden und geschändet wird. Und doch bleibt die Ambivalenz der Nacktheit auch in dieser Sequenz erhalten: der unbekleidete, der enthüllte Körper ist zweifellos handlungsnotwendig, enthält symbolisches Gewicht (der schutzlose Mensch!), zugleich ist er, immer noch, Austellungsstück, Gegenstand der Neugier.

Der Film wird nicht zuletzt zusammengeklammert durch die rauschende, schwermütige Akkordeonmusik (Musik von wem? - gespielt wird sie wohl vom Schauspieler Fedorenko). "Verhängnis" hat sowohl den Zuschauerpreis beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken erhalten als auch den Bundesfilmpreis. Beide Auszeichnungen verdeutlichen, welch breites Interresse auch ein schwieriger Film in Deutschland erringen kann, wenn man ihn nur wagt. Immerhin, dieser Film ist in der Schutzzone einer Filmhochschule entstanden, als Abschlußproduktion der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Es wäre sehr zu wünschen, daß Kelemen auch auf dem freien Markt ein Platz eingeräumt wird.
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