- | Japan 2004 | 141 Minuten

Regie: Hirokazu Kore-eda

Eine junge, alleinstehende Mutter verlässt wegen einer neuen Beziehung ihre vier Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Ganz auf sich allein gestellt und unbeachtet von der Außenwelt, richten sich die Geschwister in ihrem kleinen Appartement in Tokio ein und führen mitten in der Großstadt in bizarrer Abgeschiedenheit einen stillen Überlebenskampf. Mit großer Sensibilität, Geduld und dokumentarischer Genauigkeit schildert der Film auf Augenhöhe der Kinder deren bedrückenden Alltag und die langsame Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse. Auf realen Ereignissen beruhend, enthält sich das leise Drama jeglicher Anklage und Schuldzuweisung, setzt den Kindern und ihren leidvollen Erfahrungen aber gerade dadurch ein würdiges Denk- und Mahnmal. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DARE MO SHIRANAI
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
TV Man Union/Bandai Visual Co./Engine Film/C-Style/Cine Qua Non Film
Regie
Hirokazu Kore-eda
Buch
Hirokazu Kore-eda
Kamera
Yutaka Yamazaki
Musik
Gontiti
Schnitt
Hirokazu Kore-eda
Darsteller
Yûya Yagira (Akira) · Ayu Kitaura (Kyoko) · Hiei Kimura (Shigeru) · Momoko Shimizu (Yuki) · Hane Kan (Saki)
Länge
141 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Die Doppel DVD enthält u.a. ein längeres Interview mit dem Regisseur (30 Min.).

Verleih DVD
Sunfilm (16:9, 1.85:1, DD5.1 jap./dt., dts dt.), Trigon (16:9, 1.66:1, DD2.0 jap.)
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Diskussion
Dass Kinder auch in fortschrittlichen, zwischen ökonomischen Zwängen und Selbstverwirklichungsstreben hin- und hergerissenen Gesellschaften oft einen schlechten Stand haben, ist nicht zu bestreiten. Selbst in Europa leben immer mehr Mädchen und Jungen unterhalb der Armutsgrenze oder werden Opfer von Eltern, die aus Interesselosigkeit und/oder Egoismus die fundamentalsten Bedürfnisse ihrer Kinder missachten. Ein besonders eklatanter Fall aus Japan, einem Land, in dem die Wirtschaftskrise und die Zerrissenheit der Menschen zwischen Individualität und Anpassung besonders bizarre Blüten treibt, stand am Beginn von „Nobody Knows“. Eine Mutter hatte ihre vier Kinder in einem Tokioter Appartement sich selbst überlassen, ohne dass die Nachbarn während vieler Monate darauf aufmerksam geworden wären. Zur Schule gingen die Geschwister nie. Erst der Tod eines Kindes brachte die Vorgänge ans Tageslicht. „Nobody Knows“ ist freilich kein sozialkritischer Diskurs über die mentale und moralische Situation eines Landes; dafür nimmt der 1962 geborene Regisseur Hirokazu Kore-eda seine Figuren zu ernst, als dass er sie irgendwelchen Anklagen oder Aussagen unterordnen oder ausliefern würde. Vielmehr zeichnet den Film eine unspektakuläre Ernsthaftigkeit und genaue Beobachtungen aus, ganz ähnlich wie frühere Filme von Kore-eda, besonders „Maboroshi – Das Licht der Illusion“ (fd 33 186), in denen eine Ruhe und Menschlichkeit zu spüren sind, die zu Vergleichen mit dem großen Meister des japanischen Kinos, Yasujirô Ozu, geführt haben. „Nobody Knows“ wird aus der Perspektive des zwölfjährigen Akira erzählt, dem ältesten von vier Geschwistern, die offenbar alle einen anderen Vater haben. Gespielt – im besten Sinne des Wortes: verkörpert – wird Akira von Yuya Yagira, der in Cannes 2004 mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde. Seinen Schwestern Kyoko und Yuki sowie dem kleinen Bruder Shigeru gegenüber verhält sich Akira in seiner Ernsthaftigkeit wie der verlängerte Arm der jungen Mutter. In manchen Szenen zu Beginn erscheint er sogar um einiges reifer als die seltsam kichernd-kindische Frau, die sich anschickt, eine neue Beziehung mit einem unbekannt bleibenden Mann einzugehen. Immer größer werden die Phasen ihrer Abwesenheit, bis ihre Kinder, mit einem erbärmlichen Haushaltsgeld ausgestattet, schließlich ganz auf sich gestellt sind. Die Nachbarn kennen außer Akira keines der Kinder, denn diese wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unauffällig in die kleine Wohnung geschleust. Mit dem Gestus und der Überzeugungskraft eines Dokumentaristen blickt Kore-eda auf den Überlebenskampf der Kinder in ihrem übersichtlichen Alltag. Immer wieder unterbrechen wie mit einer Lupe beobachtete Szenen oder Großaufnahmen kleiner Details den chronologischen Fluss, wobei das Zeitgefühl grundsätzlich vage bleibt. Erst nach und nach wird klar, dass man mit den Kindern ein ganzes Jahr durchlebt. Der Horizont der kleinen Welt wird kaum erweitert, man erfährt so gut wie nichts über den Verbleib der Mutter oder über die Menschen aus der Nachbarschaft. Trotzdem, oder gerade deshalb schlägt der Film mit zunehmender Dauer in Bann. Allem, was die Kinder tun, um die endlosen Tage totzuschlagen, widmet Kore-eda sich mit einer Aufmerksamkeit, die der Existenz der Kleinen eine Würde und Bedeutung verleiht, die ihnen in ihrem Leben sonst nicht zuteil wird. „Nobody Knows“ löst in gewisser Weise genau das ein, was Terence Davies mit „Entfernte Stimmen – Stilleben“ (fd 27 151) erreichen wollte: stummes Leid aus der Vergessenheit ins Bewusstsein der Menschen zu holen. Die behutsame Distanz, die Kore-eda zu seinen kindlichen Helden bei aller Zuneigung aufrecht erhält, bewahrt den Film davor, larmoyant zu werden, auch nicht bei dem an einigen Stellen etwas süß geratenen Soundtrack. Wie in einem modernen Märchen, in dem der böse Wolf einer noch bedrohlicheren Kraft, nämlich einer beunruhigenden Einsamkeit und abgründigen Vergessenheit Platz gemacht hat, wo der Wald durch ein anonymes Wohnviertel ersetzt wurde, verfolgt man ungläubig das Schicksal der vier Geschwister. Wo andere in der Schule mit abstrakten Aufgaben das Rechnen erlernen, wird es für Akira mit ganz konkreten Problemen zu einer Überlebensfrage. Natürlich kann er bei aller Hingabe den schleichenden Niedergang der geschwisterlichen Gemeinschaft nicht aufhalten. Die kindliche Unbekümmertheit, das Aufgehen im Hier und Jetzt, in einem gleichförmigen Strom der Zeit, dem sich besonders die jüngeren Geschwister ohne Gegenwehr ausliefern, führen unweigerlich zur stetigen Verschlechterung der Bedingungen in der Wohnung. Nach vielen ebenso subtilen wie beklemmenden Beobachtungen und einem tragischen Zwischenfall entlässt der Film drei der Kinder in eine ungewisse Zukunft. Einzig in einem ebenfalls einsam scheinenden Schulmädchen aus der Nachbarschaft könnte sich zaghaft eine Brücke zur Außenwelt auftun.
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