Erde und Asche

- | Afghanistan/Frankreich 2004 | 105 Minuten

Regie: Atiq Rahimi

Ein alter Mann und sein fünfjähriger Enkel warten an einer Weggabelung in der menschenleeren Weite Nordafghanistans auf eine Mitfahrgelegenheit. Sie wollen dem Vater des Jungen die traurige Nachricht bringen, dass der Rest ihrer Familie bei einem Angriff auf ihr Dorf ausgelöscht wurde. Ein überwältigender, ebenso kluger wie sinnlicher Film über die zerstörerischen Folgen eines namenlosen Krieges. Das parabelhafte, raffiniert strukturierte Drama vereint semidokumentarische wie surrealistische Elemente und kreist um die Notwendigkeit der Trauer, ohne die der Kreislauf von Tod und Gewalt nicht durchbrochen werden kann. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KHAKESTAR-O-KHAK
Produktionsland
Afghanistan/Frankreich
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Afghan Film/Les Films Du Lendemain/France 3 Cinéma
Regie
Atiq Rahimi
Buch
Kambuzia Partovi · Atiq Rahimi
Kamera
Eric Guichard
Musik
Khaled Arman · Francesco Russo
Schnitt
Urszula Lesiak
Darsteller
Abdul Ghani (Dastagir) · Jawan Mard Homayoun (Yassin) · Walli Tallosh (Mirza Qadir) · Guilda Chahverdi (Zaynab) · Kader Arefi (Fateh)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Ein Lastwagen rumpelt über eine Ebene im Norden Afghanistans. Schon von weitem ist die gelbgraue Staubfahne zu sehen, die er hinter sich herzieht. Die Menschen auf der Pritsche nehmen davon keine Notiz. Ihre Gesichter starren ins Leere. An einer Weggabelung bleiben ein alter Mann und sein fünfjähriger Enkel zurück, um auf eine andere Mitfahrgelegenheit zu warten. Während das Kind, Yassin, in einem ausgetrockneten Flussbett einen ausgebrannten Panzer umschleicht, kauert der alte Dastaguir im Schatten. Von fern dringt die schrille Stimme des Knaben durch die Hitze, gegenüber rückt ein Händler seine spärlichen Waren zurecht, an der Straßensperre döst ein Soldat. Mehr passiert nicht. Doch hinter der Stirn des Greises arbeitet es unentwegt, was sich in Atiq Rahimis semidokumentarischem Drama (nach seiner eigenen Novelle) eingangs nur an unterdrückten Seufzern erahnen lässt. Zunächst misslingen die Versuche von Großvater und Enkel, dem Ziel ihrer Reise, einer Kohlenmine in den Bergen, näher zu kommen, durch kafkaeske Wendungen der Handlung: So taucht z.B. der Laster, der sie mitnehmen soll, in dem Moment auf, wenn Dastaguir seinem Enkel hinterher läuft; ein anderes Mal kann er ihn nicht rechtzeitig aus dem Panzer zerren. Was es mit der beschwerlichen Reise auf sich hat, wird erst offenbart, als sie die Nacht in einem entfernten Dorf verbringen wollen. Nach langem Marsch durch die Einöde entfährt dem Alten ein Schrei des Grauens: vor ihnen breitet sich ein Trümmerfeld zerstörter Häuser aus. Auch hier wurde ein Großteil der Bevölkerung ausgelöscht, genau wie in ihrem eigenen Dorf. Aus Dastaguirs Familie sind nur noch er und sein Enkel am Leben – und Murat, der Vater des Jungen, der in der Mine arbeitet. Ihm muss der Alte die schreckliche Nachricht überbringen und weiß doch nicht, was er sagen soll, damit nicht noch mehr Unheil passiert. „Erde und Asche“ ist ein überwältigender Film, ebenso klug wie sinnlich, weshalb man zögert, ihn eine Parabel zu nennen. Er taucht tief ein in ein anderes Land, in ein anderes Empfinden und Denken. Vor jedem Sich-Einlassen auf Details und Themen schafft die Inszenierung eine Orientierung in Raum und Zeit – wobei diese im westlichen, an messbare Einheiten gebundenen Sinn hier nicht existiert, aber auch kein Projekt Zukunft, durch das sich die zerstörte Gegenwart in ein besseres Morgen transzendieren ließe. Dass die literarische Vorlage aus dem Jahr 1999 den Krieg gegen die Sowjets im Sinn hatte, mittlerweile aber jeder an die Taliban denkt, fällt deshalb nicht weiter ins Gewicht: Das Leiden der Menschen ist gleich geblieben. Vom Feind oder dem Krieg wird im Film nie gesprochen, nur die Folgen sind Thema: materielle wie seelische Zerstörungen, der Verlust der stabilen Ordnung. Viele reagieren darauf mit Zynismus, andere haben sich in Gleichgültigkeit oder eine Form des Wahns zurückgezogen. Dastaguir hat zu viel in seinem Leben durchlitten, um sich kampflos in solchen Sackgassen zu verlieren. Ihn quält jedoch die Frage, wieviel grausame Wahrheit seinem Sohn zumutbar ist, ohne die Spirale der Gewalt ein weiteres Mal in Bewegung zu setzen. Gleichzeitig plagt ihn die Ungewissheit, ob die Hiobsbotschaft nicht längst bis in die Berge vorgedrungen ist, und warum er in diesem Fall von Murat noch nichts gehört hat. Es sind solche untergründigen Gegenläufigkeiten, die das an der Oberfläche simpel erscheinende „Road Movie“ als raffiniert konstruiertes Drama enthüllen, das Informationen dramaturgisch geschickt hinauszögert oder etablierte Positionen immer wieder relativiert. Insbesondere mehrere surreale Traumsequenzen tendieren dazu, die Last der Erinnerungen aufzubrechen, indem sie mit den Möglichkeiten von Versöhnung spielen. In der bewegendsten dieser Szenen wirft Dastaguir seiner nackt durchs Flammenmeer hetzenden Schwiegertochter ein rotes Tuch zu, das sich in ein Kleid verwandelt und ihre Blöße bedeckt. Im Kern geht es Rahimi um die Notwendigkeit zu trauern, weil darin die einzige Möglichkeit besteht, dem Bannkreis der Rache zu entkommen und die desaströsen Folgen abgespaltener Gefühle wie Trauer, Hass, Verzweiflung zu mildern. Was in der Novelle der schizophren anmutende innere Dialog Dastaguirs leistet, findet in der lastenden Stille des Films ein überraschendes Pendant, das die Darstellung der Zerrissenheit wie auch die Anmutung einer Heilung ganz der Dramaturgie überträgt. Auch darin ist das Spielfilmdebüt Atiq Rahimis auf der Höhe der Zeit, allen geschilderten Verhältnissen zum Trotz.
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