Wie können Filmfestivals im In- und Ausland unter den Beschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie weitermachen und überleben? Darüber haben die Veranstalter überall viel nachgedacht, diskutiert und experimentiert und dabei recht unterschiedliche Konzepte entwickelt.
Der einfachste und sicherste, aber auch bequemste Schritt in der Corona-Krise ist die Absage. So strichen im April 2020 die Veranstalter das traditionsreiche Filmfestival in Karlsbad, das für Juli geplant war. Sie lehnten es ab, die 1946 gegründete Filmschau in anderer oder reduzierter Form abzuhalten. Das hätte dem Ziel widersprochen, „gegenseitige Begegnungen zwischen Kinobesuchern, Filmschaffenden und Menschen aus allen Bereichen des Lebens zu ermöglichen“, erklärte der Festivalpräsident Jiri Bartoska. Auch das Filmfest München fand im Juni/Juli nicht statt; als Ersatz zeigte es sieben Weltpremieren an zwei Open-Air-Locations.
Einen unfreiwilligen Zickzackkurs absolvierte das Kinofest Lünen. Erst wurde es abgesagt, dann meldete es sich im Oktober zurück und kündigte für Anfang November eine verkleinerte physische Ausgabe unter dem neuen Namen „KinoFilmFest Lünen“ und mit erweitertem Leitungsteam an. Wegen des Corona-Lockdowns wurde das neu formierte Festival dann auf den Dezember verlegt.
Eine „Liebesbekundung“ an die (Film-)Kultur
Eine zweite Variante besteht in dem naheliegenden Schritt, ein Festival zu verschieben. So sagte im März das Filmfestival in Cannes seine Mai-Ausgabe ab und verschob das Event auf unbestimmte Zeit. Eine dreitägige Mini-Version mit eher symbolischem Wert fand dann im Oktober mit wenigen Filmen statt. Eine „Goldene Palme“ wurde nur an einen Kurzfilm vergeben. Vom gewohnten Glamour des wichtigsten Filmfestivals der Welt waren nur noch Spuren sichtbar. Und mit einer Sperrstunde ab 21 Uhr konnte von echter Festivalatmosphäre nicht die Rede sein. Wer über den Roten Teppich lief, musste Desinfektionsschleusen passieren und seine Körpertemperatur messen lassen. Gleichwohl sprach Festivalpräsident Pierre Lescure von einer „Liebesbekundung“ an die (Film-)Kultur. Zuvor schon hatten 56 Filme von den Festivalmachern ein sogenanntes „Cannes“-Gütesiegel erhalten, womit sie sich rühmen können, zur prestigeprächtigen Cannes-„Selection“ 2020 zu gehören, selbst wenn sie gar nicht in den Festivalkinos gelaufen sind.
Streaming oder No Streaming
Auch das für Mai geplante Neiße Filmfestival in Sachsen, Polen und Tschechien wurde im März zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben und fand dann im September statt. Anders das Filmfestival in Bozen: Ursprünglich sollte es im April über die Bühne gehen, wurde zunächst auf Juni verschoben und dann ganz abgesagt. Festivalleiterin Helene Christanell betonte: „Gerade in dieser harten Zeit merken wir, wie wichtig es ist, Kultur mit anderen Menschen zusammen zu erleben. Wie wichtig es ist, Filme in einem vollen Kinosaal vorzustellen und eine direkte Reaktion vom Publikum zu erhalten. Das gemeinsame Erleben im Kinosaal und der Austausch danach sind ein wesentlicher Bestandteil dessen, warum man Film liebt und warum Kino und Festivals nicht durch Streaming ersetzbar sind.“
Der dritte Weg, auf die Corona-Pandemie zu reagieren, heißt: verkleinern: Als Fels in der Brandung erwies sich dabei das älteste Filmfestival der Welt in Venedig. Die Filmfestspiele gingen als erstes der großen Festivals seit Beginn der Pandemie in konventioneller Form an den Start. Allerdings mit weniger Filmen, dafür aber mehr Vorführungen und zwei neuen Open-Air-Kinos. Zudem wurde die Programmschiene Sconfini gestrichen. Es galten strenge Corona-Regeln: vom obligatorischen Mund-Nasen-Schutz im Kino über Online-Tickets, frei bleibende Sitzplätze, um in den Sälen den Abstand zu wahren, bis zum Fiebermessen am Kinoeingang. Es gab keine Fans am Roten Teppich und weit weniger Stars als sonst am Lido. Potenzielle US-Kassenschlager blieben ebenfalls fern.
Auch die 42. Biberacher Filmfestspiele setzten Corona-bedingt auf eine Schrumpfung. Statt 65 Filme wie 2019 standen bei der physischen Ausgabe im Oktober 2020 nur 45 Filme auf dem Programm. Auf der Homepage resümieren die Veranstalter: „Es liegen ganz besondere Tage hinter uns: Eine Achterbahnfahrt der Gefühle zwischen der Freude, das Filmfest als Präsenzveranstaltung erleben zu können, und der Sorge um die immer weiter steigenden Infektionszahlen. Dank eines gut ausgearbeiteten Hygienekonzepts, der hervorragenden Mitarbeit aller Beteiligten und der Loyalität unserer Gäste und Filmschaffenden hatten wir nichtsdestotrotz ein – den Umständen entsprechend – sehr erfolgreiches Filmfest.“ Mit 3.560 Besuchern blieb die Resonanz allerdings weiter hinter dem Schnitt der Vorjahre. 2019 gab es noch 15.000 Besucher
Komplett analog oder komplett virtuell
Die vierte Variante besteht darin, analog weiterzumachen wie zuvor, allerdings mit konsequenten Hygiene- und Abstandsregelungen und mehr Spielstätten. So hielt es das Filmfestival für Kinder und junges Publikum in Chemnitz (siehe weiter unten).
Die fünfte und radikalste Reaktion auf das Corona-Problem: komplett ins Netz zu wechseln. So fand das 35. DOK.fest München nur online statt. Es war nach eigenen Angaben das erste deutsche Filmfestival, das sein gesamtes Programm digital präsentierte. 121 Dokumentarfilme aus 42 Länder, darunter 21 Weltpremieren. Ein Ticket kostete 4,50 Euro. Wer einen Euro mehr zahlte, unterstützte die Münchner Kinos, die sonst als Festivalkinos mitmachen.
Auch das 30. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern wanderte im Mai komplett ins Internet und zeigte unter dem Schlagwort #filmkunstzuhause 29 Filmprogramme sowie Gespräche, Konzerte und DJ-Sets. In Schwerin wurden an sechs Festivaltagen 2470 bezahlte Filmabrufe zu je 4,99 Euro registriert. Hier gingen die Einnahmen zu 80 Prozent an die Lizenzgeber, 20 Prozent an den technischen Dienstleister. „Das Experiment ist geglückt. Unser Konzept für ein Filmfest im Netz ist aufgegangen“, jubelte der künstlerische Leiter Volker Kufahl, räumte aber ein, dass natürlich „der persönliche Kontakt mit dem Publikum im Kinosaal“ gefehlt habe.
Beim
Lichter Filmfest Frankfurt am Main waren im April 22 Langfilme
und fünf Kurzfilmprogramme on Demand abrufbar – also etwa die Hälfte des
Programms einer analogen Ausgabe. Dazu Festivalleiter Gregor Maria Schubert: „Wir
hatten von Anfang an gesagt, dass wir maximal 30 Filme anbieten können. Wir
finden es nicht nötig, das komplette Programm ins Netz zu stellen, weil wir die
Menschen nicht überfordern wollen.“

Hybrid ist angesagt
Zur gängigsten und inzwischen häufigsten Variante hat sich die hybride Ausgabe entwickelt: Sie kombiniert physische Filmvorführungen und Online-Präsentationen. Besonders konsequent haben die 54. Hofer Filmtage im Oktober/November ihr duales Konzept umgesetzt. Unter dem Motto „Double Feature“ kombinierten sie in 13 Tagen Präsenz- und Online-Veranstaltungen, wobei sechs Tage auf Präsenz und sieben Tage auf Digital entfielen. In Hof feierten 72 Langfilme und 54 Kurzfilme ihre Premiere wie in den Vorjahren in den Kinos und dann auch als Live-Stream.
Um
die Zahl der Premieren auf dem Niveau der Vorjahre zu halten, kamen in Hof mit
dem Festsaal und der Bürgergesellschaft zwei neue Spielstellen dazu. Damit
zeigte Hof nach eigenen Angaben „als erstes Filmfestival in Deutschland alle
Filme im Kino und deutschlandweit auch online auf Abruf“. An fünf Abenden wurde
je eine Premiere einschließlich eines anschließenden Filmgesprächs live aus dem
Kino gestreamt. Auf dem eigens eingerichteten Portal HoF on Demand registrierte
man mehr als 17.000 Filmabrufe. Diese Resonanz zeige, dass „sich eine
Filmauswertung als Präsenzveranstaltung und digital gegenseitig ergänzt und
nicht kannibalisiert“. Mit dem Online-Angebot seien Zuschauer erreicht worden,
die nicht nach Hof reisen konnten, aber auch neue Zuschauergruppen angesprochen
worden. Für die Präsenz des Festivals übers Jahr sorgt die dauerhafte
Abrufbarkeit aller aufgezeichneten Livestreams und weiterer Inhalte auf dem Youtube-Kanal der Filmtage. Für den künstlerischen Leiter Thorsten Schaumann ist das
Konzept „Double Feature“ aufgegangen.
Flucht ins Auto- und Open-Air-Kino
Dass selbst ein Unglück wie die Corona-Pandemie seine guten Seiten hat, zeigt sich am neu erwachten Einfallsreichtum der Festivalmacher. Das Filmfest Oldenburg eröffnete im September sein 45-Filme-Programm mit einer Wohnzimmer-Gala: Der Film „Puppy Love“ des kanadischen Regisseur Michael Maxsis und die festliche Mini-Eröffnung wurden aus einem privaten Wohnzimmer gestreamt. Neben Maxsis waren auch die Hauptdarsteller Paz de la Huerta und Hopper Penn anwesend.
Die
Festivals in New York und Toronto verlegten einen
Teil der Screenings ins Autokino. Dagegen wäre das Athener Filmfestival im September wegen einer Corona-bedingten Kinoschließung fast ins Wasser
gefallen, profitierte aber vom warmen Sommerwetter und verlegte seine 90 Filme
in Freilichtkinos. Trotz strenger Auflagen kamen Tausende Besucher bei
Abendtemperaturen von mehr als 25 Grad. „Dieses Jahr haben wir den Kampf
gewonnen“, sagte der kulturelle Leiter Loukas Katsikas.
Analoges Festival: „Schlingel“ in Chemnitz
Wie unterschiedlich Filmfestivals auf die Herausforderungen der Corona-Epidemie reagieren, welche Lösungen sie gefunden haben oder welche Strukturen sie ändern wollen, zeigen zwei exemplarische Fallbeispiele.
Das Kinder- und Jugendfilmfestival „Schlingel“ in Chemnitz wollte im Oktober eigentlich seinen 25. Geburtstag feiern. Doch dann kam die Corona-Krise. Absagen oder ins Internet verlegen, das kam für den „Schlingel“ nicht in Frage. Die Macher trotzten dem Virus und dachten sich ein cleveres Konzept aus. Das Festival hielt am bisherigen Programmvolumen fest, verteilte es aber unter den Corona-Auflagen auf viel mehr Spielstätten. Liefen im Vorjahr 233 kurze oder lange Filme aus 52 Ländern, so waren es diesmal 263 aus 40 Ländern. Zu den bisherigen zentralen Spielstätten Cinestar-Multiplex und dem Filmpalast Astoria in Zwickau kamen das Kino Metropol, das Clubkino Siegmar und die Stadthalle neu hinzu.
Zudem wurden Vorführungen für Schulklassen konsequent
von Vorführungen für Akkreditierte und andere Besuchergruppen getrennt. Die
Zahl der Zuschauer pro Saal war stark beschränkt. Am Ende kamen so immerhin
rund 13.000 Besucher in die Kinos; in den Jahren davor waren es doppelt so
viele gewesen. „Wir sind sehr, sehr zufrieden. Das ist nicht absehbar gewesen,
dass es wirklich möglich ist, so viele Kinder und Jugendliche begrüßen zu
können“, sagte Festivalleiter Michael Harbauer. Allerdings konnten zur Jubiläumsausgabe
nur wenige Fachbesucher anreisen. Für Branchenveranstaltungen des Industry
Forum und eine neue Projektwerkstatt wurden Filmschaffende per Videokonferenz
zugeschaltet.
Das Rezept: mehr Platz
Der Schlüssel zum Erfolg liegt für Harbauer in der Entscheidung, das Publikum möglichst auseinanderzuziehen, um die Mindestabstände einzuhalten. „Wir haben sehr früh versucht, mehrere Häuser dazuzugewinnen.“ Der Mehraufwand sei kraftzehrend gewesen, habe sich aber gelohnt. „Ein wesentlicher Faktor war die Stadthalle, die über einige große Säle verfügt. Dort fand am Ende auch die ins Netz gestreamte Preisverleihung statt, wenn auch nur im kleinen Kreis.“
Während die Kinder im Grundschulalter Filme in der Stadthalle sahen, gingen die fünften und sechsten Klassen ins Metropol Kino. „Außerdem haben wir mit dem Clubkino Siegmar auch eine Spielstätte außerhalb der Innenstadt akquiriert“, berichtet Harbauer. Weitere Veranstaltungen gab es in Zwickau, Annaberg und Aue.
Ganz ohne Bedenken und Widerstände ging der „Schlingel“ aber nicht über die Bühne. „Wir haben viele Gespräche geführt und den Schulleitern und Lehrer das Programm vorgestellt, berichtet Harbauer. „Gleichwohl haben viele besorgte Eltern gefragt, ob das denn auch wirklich sicher sei. Unser Hygienekonzept führte dann dazu, dass die Eltern ihre Kinder doch ins Kino gelassen haben.“ Wichtig war neben der strikten Umsetzung der Corona-Auflagen auch die Entscheidung, Vorführungen fürs Fachpublikum von denen für die Kinder zu trennen.
Die Veranstalter hatten sich auch intensiv auf Notfälle vorbereitet. Was tun, wenn sich ein Kinobesucher als infiziert herausstellt? In einem solchen Fall wäre der Kinosaal gesperrt und desinfiziert worden. Harbauer: „Wie das praktisch ausgesehen hätte, mussten wir Gott sei Dank nicht erleben. Durch unsere Strategie des Auseinanderziehens hätte das Festival aber nicht beendet werden müssen; wir hätten Ausfälle an anderen Orten zumindest teilweise auffangen können.“
Es wurden auch Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass ein Team-Mitglied positiv getestet worden wäre. „Zum einen haben wir sichergestellt, dass niemals alle für mehr als zehn Minuten zusammenstanden. Es gab zwar eine Besprechung am Morgen, die aber kurz war und mit viel räumlichem Abstand. Zum anderen haben wir drei getrennte ,Inseln‘ geschaffen, an denen sich das Personal für Einsatzbesprechungen treffen konnte.“
Verzicht auf paralleles Streaming
Während viele Festivals, die sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richten, Hybrid-Ausgaben entwickelten oder ganz ins Internet wechselten, kam für Harbauer ein Streaming-Angebot für die jungen Zuschauer/innen in Chemnitz nicht in Frage. „Wenn ich die jüngere Generation anspreche, geht es mir darum zu zeigen, dass Kino ein Ort ist, an dem man sich über Filme austauschen und Neues entdecken kann. Das geht nur gemeinschaftlich.“ Der Festivalleiter sieht sich auch in der Verantwortung gegenüber den Filmschaffenden, die ihm ihre Werke anvertrauen. „Wenn wir brandneue Filme als internationale Premiere präsentieren, möchte ich den Filmemachern einen angemessenen Rahmen bieten. Diesen Rahmen habe ich in einem Kino viel eher als auf einer Streaming-Plattform.“
Ein bisschen digital war der „Schlingel“ aber dennoch – allerdings nur für Juroren. „Unter dem neuen Titel ,Club of Festivals‘ habe ich Kollegen aus 20 Kinder- und Jugendfilmfestivals weltweit zusammengeführt und in Diskussionsforen unser gesamtes Wettbewerbsprogramm bewerten lassen“, erläutert Harbauer. „Dies führte am Ende zu drei Preisträgern in den Kategorien Kind, Junior und Jugend und zu einer globalen Wahrnehmung der Filme, die in Chemnitz teilweise als Welt- oder internationale Premiere zu sehen waren. Die Ergebnisse sind in der Programmgestaltung andere Festivals abzulesen.“
Mut zur Innovation: Kurzfilmtage Oberhausen
Einen ganz anderen Weg beschritten die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Sie entschieden sich früh, auf eine physische Ausgabe zu verzichten. Dafür stellten sie im Mai etwa zwei Drittel des analogen Festivalprogramms von 550 Filmen online. Zudem gab es im Netz Gespräche mit Filmschaffenden, Diskussionen und jeden Abend ein DJ-Set. Mit einem Festivalpass für 9,99 Euro konnte man sechs Tage unbeschränkt Kurzfilme streamen. Die Online-Version der Kurzfilmtage fand eine hohe Resonanz. Mehr als 2500 Pässe wurden in 60 Länder verkauft, mehr als 1000 Fachbesucher aus fast 70 Ländern nahmen online teil.
Fünf
Monate später präsentierte das älteste Kurzfilmfestival der Welt ein Konzept,
das aus der Corona-Krise weitreichende Konsequenzen zieht und wahrscheinlich
wegweisende Weichenstellungen beinhaltet. Zwei Kernpunkte stechen ins Auge: Zu
den fünf bisherigen Wettbewerben im Kino treten ab 2021 drei neue
Online-Wettbewerbe hinzu. Und das bisher sechstägige Festival verlängert sich
um vier Tage. „Die neuen Wettbewerbe sind Bestandteil des Strukturwandels der
Kurzfilmtage, der eine neue Funktionsweise von Festivals einleiten soll“, sagt der
Leiter Lars Henrik Gass. Die Filme sollen nämlich nicht im Festivalkino gezeigt,
sondern auch im Internet gestreamt werden. Damit geht ein Paradigmenwechsel
einher: „Die Inhalte von Festivals werden fast überall zugänglich. Festivals
werden von Veranstaltungen zu Plattformen“, so Gass.
Festivals als Plattformen
Angesichts des globalen Vormarsches der kommerziellen Streaming-Plattformen kann man das eine steile These nennen. Gass erläutert die Prognose so: „Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir alle stehen, und die das Kino als Ort möglicherweise nicht überleben wird, müssen wir uns über die eigenen Konventionen Gedanken machen. Warum muss denn jedes Jahr wieder zur gleichen Zeit über eine festgelegte Dauer an immer demselben Ort ein Festival stattfinden? Das kann man machen – und trotzdem zusätzlich noch etwas anderes, das unseren Auftrag, das Neue zu vermitteln, weit über diese Beschränkung hinaus einlöst.“
Doch war die Corona-Pandemie der einzige Grund für die Reform, vor allem hinsichtlich der Parallel-Existenz von Online- und Offline-Wettbewerben? Dazu Gass: „Nein, wir wollten schon länger einen Strukturwandel des Festivals einleiten, hatten aber auch Angst davor, weil wir nicht wussten, ob dies angenommen werden würde. Die Klimakrise, die technologischen Entwicklungen, die Veränderung der Arbeitsgesellschaft und des Freizeitverhaltens sowie der Niedergang der Kinokultur stellten schon vor der Pandemie hinreichende Gründe dar, über Veränderung nachzudenken. Jetzt müssen alle darüber nachdenken und alle eine Lösung finden. So gesehen hat uns die Pandemie den Weg frei gemacht.“

Konkret ist für das Jahr 2021 geplant, in der ersten Festivalhälfte die neuen Online-Sektionen vorzustellen und in der zweiten die traditionellen Wettbewerbsprogramme. Die Programme sollen sich ja nicht kannibalisieren. „Wer will, kann Oberhausen online anders erleben als Oberhausen vor Ort. Wir fänden die Vorstellung bizarr, ein Festival vor Ort digital zu replizieren oder umgekehrt zeitgleich etwas anderes in Konkurrenz zu zeigen. Das Festival ist kein Ort, sondern eine Plattform, die zu unterschiedlichen Zeiten sichtbar wird“, sagt Gass. „Derzeit bauen wir einen Festival-Channel, der übers ganze Jahr Angebote macht, wann immer wir die Ressourcen dafür haben.“
Das Kino als Ort kollektiver Filmwahrnehmung
Mit den Online-Angeboten wollen die Kurzfilmtage neue Zielgruppen erreichen und ihre internationale Reichweite ausbauen. Dieses Ziel sei gerade für eine Stadt wie Oberhausen wichtig, betont Gass. „Oberhausen ist ein toller Ort, aber die einzige Großstadt in Nordrhein-Westfalen ohne Hochschule. Das macht es generell etwas schwierig, Menschen von ihren Sofas und Streamingdiensten wegzulocken. Wir sind keine Metropole, wir könnten es aber werden, wenn wir das Festival weit über Oberhausen hinaus adressieren. Oberhausen sollte früher einmal der ,Weg zum Nachbarn‘ sein. Jetzt haben wir erstmals die Mittel dazu.“
Die Online-Verankerung der Kurzfilmtage
könnte überdies ein hilfreiches Instrument werden, Kultur zu demokratisieren.
Für Gass und sein Team ist es faszinierend, auf diese Weise „ein neues Publikum
zu erreichen und kennenzulernen, eines, das niemals hierherkommen könnte oder
würde. Das hilft uns, für verschiedene Menschen ein Festival zu machen und
verschiedene Felder gleichzeitig zu bespielen: in Oberhausen Kinokultur
wirklich sinnlich erlebbar zu machen und digital ein Publikum in der ganzen
Welt für Filme aus der ganzen Welt zu begeistern.“
Trotz des klaren Bekenntnisses zu einem Online-Block sollen in Oberhausen auch künftig wichtige Programme wie die fünf traditionellen Wettbewerbe im Kino gezeigt werden. Die physische, sinnliche Erfahrung der kollektiven Sichtung in einem dunklen Raum und der persönliche Gedankenaustausch vor Ort bleiben essenziell für die Kurzfilmtage. Gass: „Darin sind wir dogmatisch: Wir möchten die mediengeschichtliche Besonderheit des Kinos möglichst überzeugend vermitteln. Die Zumutung, Film gemeinsam in einem Kino zu schauen, hält ein Bewusstsein von Kollektivität wach und zwingt die Menschen, einmal für eine beschränkte Zeit, die Welt wie der Film zu sehen und nicht so, wie man sie gerne haben will.“
Ein Ausblick
Doch
wie geht es in den nächsten Wochen und Monaten weiter? Dürfen Filmfestivals
überhaupt stattfinden? Existieren die Kinos noch? Ungeachtet der
Virus-Entwicklung in den kommenden Monaten will die „Berlinale“ 2021
als Präsenzveranstaltung stattfinden, wenngleich auch mit Corona-Regelwerk. Damit
möchte das Festival auch ein Zeichen setzen. „Wir wollen das Kino stärken“,
sagt die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek dieser Tage. Die „Berlinale“
plant, die Platzkapazitäten durch die Anmietung weiterer Spielstätten zu
erhöhen. „Wenn nicht jeder Platz im Kino besetzt werden darf, können wir nicht
so viele Tickets verkaufen wie 2020. Das ist uns bewusst“, so Rissenbeek.

Dagegen hat das Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken gerade bekanntgegeben, dass es 2021 komplett online geht. Die um einen Tag verlängerte erste deutsche Filmschau des Jahres 2021 wird die Filme der vier Wettbewerbe und der Nebenreihen auf einer eigens entwickelten Streaming-Plattform on Demand bereitstellen. Als neues Angebot soll ein kostenloser linearer Web-Kanal das Programm ergänzen.
Geplant ist zudem, einen Teil des Festivals im späteren Jahresverlauf als Präsenzveranstaltung mit Vorführungen in den saarländischen Kinos in Anwesenheit der Preisträger/innen nachzuholen. Festivalchefin Svenja Böttger und der künstlerische Leiter Oliver Baumgarten erklären dazu: „Wir haben diese Option stets mitgedacht und wollen nun alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Festivalcharakter mit innovativen Formaten und lebendigen Ideen auf adäquate Weise ins Digitale zu übertragen.“