Von 1970 an gehörte Jutta Lampe (13.12.1937–3.12.2020) drei Jahrzehnte lang zum Ensemble der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer. Dort wurde Peter Stein zu ihrem prägenden Regisseur, der gemeinsam mit seinem Team einen poetischen Realismus nahe an klassischen wie modernen Theatertexten erschuf. Gastspiele beim Film gab Jutta Lampe dagegen nur selten. Und doch haben sich ihre wenigen Auftritte in die Geschichte des deutschen Kinos eingeschrieben.
Nein, sagt die Ärztin Marja Lwowna, Poesie habe durchaus nicht den Zweck, nur das Schöne zu preisen. Sie strebe vielmehr zur höchsten Erfüllung, wenn ein Schriftsteller die Ungerechtigkeit der Welt entlarve. Doch mit solchen Worten steht Marja in Opposition zu fast allen anderen, mit denen sie die Sommerferien auf einer Datscha im zaristischen Russland verbringt. Eine Gruppe von mehr oder weniger gut Betuchten, die nicht wissen, wie sie leben sollen: „Wir sind unnütze, überflüssige Menschen“, heißt es einmal. Marja Lwowna aber will nicht überflüssig sein; sie plädiert dafür, dass die Wohlhabenden ihr Geld sinnvoll anlegen, für Schulen, Krankenhäuser und Bibliotheken. Sie möchte „die Menschen herausführen aus der dunklen Tiefe“, zu nützlichem Tun. Soziales Engagement als Überlebenselixier – in einem Universum der Müden und Satten, der Vorsichtigen und Feigen.
Trauer in Gesten und Blicken
Jutta Lampe spielte diese Marja in Peter Steins legendärer Inszenierung „Sommergäste“ nach Szenen von Maxim Gorki, die im Dezember 1974 an der West-Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde. Zwei Jahre später übertrug Stein, gemeinsam mit Botho Strauß, das Stück auch ins Filmische: ein Fixpunkt im Kino der Bundesrepublik. Jutta Lampe war damals knapp Vierzig, und die Kamera von Michael Ballhaus hat ihre Kunst für die Ewigkeit konserviert: die nachdenkliche Traurigkeit, den Sanftmut der Gesten und Blicke, die plötzlich aufbrechende Hoffnung, in der Liebe zu einem jungen Rebellen Erfüllung zu finden: „Ich habe solches Verlangen nach Zärtlichkeit, und auch nach Leidenschaft, in meinem Alter...“ Da umkreist die Kamera das Paar, webt es gleichsam in einen Kokon ein, von dem man sich wünscht, dass er unzerstörbar sei.
In dieser Rolle ist Jutta Lampe auf der Höhe der europäischen Schauspielkunst, ebenbürtig einer Liv Ullmann oder einer Jutta Hoffmann, denen sie auch äußerlich ähnelt: schmales Gesicht, hohe Stirn, große staunende Augen, sanftes Wesen. Fragil und mädchenhaft, verletzlich und doch von enormer innerer Kraft.
Geboren 1937 in
Flensburg, hatte sie zunächst vor, Tänzerin zu werden, entschied sich dann aber
für die Schauspielerei. Nach der Ausbildung in Hamburg gehörte sie zu den
Ensembles in Wiesbaden und Mannheim, dann in Bremen, wo sie auf Peter Zadek und
Peter Stein traf. Stein, an dessen Erfolgsinszenierung „Torquato Tasso“ sie
entscheidend beteiligt war, lud sie schließlich an seine Schaubühne am
Halleschen Ufer nach Berlin ein: künstlerische Heimat für viele Jahre.
Musikalisch, einfühlsam, genau
Kritiker lobten sie für ihre psychologische Genauigkeit, mit der sie ihre Figuren auslotete, für die Musikalität ihrer Stimme, die Eleganz ihrer Bewegungen. Unvergesslich ihre Solveig in Ibsens „Peer Gynt“, die Nathalie in Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“, die Mascha in Tschechows „Drei Schwestern“, allesamt unter der Regie von Peter Stein; hinzu kamen Aufgaben bei Luc Bondy und Klaus-Michael Grüber, bei Andrea Breth und Robert Wilson. Botho Strauß bescheinigte ihr einmal: „Du bist niemand, sonst wärst du keine große Schauspielerin.“ Damit meinte er wohl, dass sie sich mit jeder Rolle auf neues Terrain wagte, immer wieder nach der Schönheit des Anfangs suchend, dem „unaufhörlichen Prozess des Werdens“ (Jutta Lampe) mit Neugier und vollkommener Offenheit begegnend.
Nach der
Schaubühnen-Epoche spielte sie in Wien, in Zürich, am Berliner Ensemble; indes:
Eine Heimat, wie es sie einst gegeben hatte, fand sie trotz schöner Aufgaben –
die Arkadina in Tschechows „Möwe“ in der Wiener Inszenierung von Luc Bondy etwa
– nicht wieder. Auch nicht im Film, dem sie zu keiner Zeit den Vorzug gegeben
hatte. Es war vor allem die Regisseurin Margarethe von Trotta, die ihr Vertrauen als künstlerische Partnerin gewann, beginnend mit „Schwestern oder Die Balance des Glücks“ (1979). Hier spielte die Lampe die
karrierebewusste Maria, eine Frau mit gepanzerter Seele, die erst nach dem
Freitod ihrer jüngeren Schwester zur Trauerarbeit bereit ist.
„Das ist meins, geben Sie’s mir“
Vielleicht ist es – neben Peter Steins „Sommergäste“ – aber vor allem der Film „Die bleierne Zeit“ (1981), der die Kunst Jutta Lampes am nachdrücklichsten zur Entfaltung brachte. Mit der Figur der Journalistin Juliane zeigt sie eine durchaus kämpferische Feministin, die nach dem Gefängnistod ihrer als Terroristin gesuchten Schwester in tiefe Zweifel gestürzt wird. Das Psychogramm einer Entfremdung von anderen und von sich selbst, die in Verzweiflung und dann in eine tastende Annäherung mündet. Der Film gestattet Jutta Lampe kaum ein Lächeln; umso eindrücklicher jene Szene, in der sie einer Gefängniswärterin das extra parfümierte Taschentuch, das diese ihrer Schwester weggenommen hatte, wieder entreißt: „Das ist meins, geben Sie’s mir“, und sich plötzlich eine fast kindliche Widerborstigkeit über ihr Gesicht legt: seltenes Glücksmoment in einem zornigen Film. Und so wie sich Jutta Lampe einst im Schaubühnenensemble mit und neben Edith Clever, Bruno Ganz, Otto Sander, Udo Samel und all den anderen „Gleichen unter Gleichen“ zu entfalten und zu behaupten vermochte, rieb sie auch in der „Bleiernen Zeit“ an den von Barbara Sukowa und Rüdiger Vogler gespielten Figuren: Sukowa, die radikale Schwester, und Vogler, der nachsichtige, beruhigende, aber schließlich zu abgeklärte Freund.
Jutta Lampe, die für „Die bleierne Zeit“ mit Darstellerpreisen in Venedig und Chicago geehrt wurde, trat zum letzten Mal in Stefan Krohmers Fernsehfilm „Familienkreise“ neben Götz George und in Margarethe von Trottas „Rosenstraße“ (beide 2003) auf. In den vergangenen Jahren litt sie unter einer tückischen Krankheit, die es mit sich brachte, dass sie sich immer mehr in sich selbst verschloss. Anfang Dezember ist sie kurz vor ihrem 83. Geburtstag in Berlin gestorben.