In seiner Autobiografie „Immer auf dem Teppich bleiben“ blickt Dieter Kosslick auf sein Leben und seine Karriere zurück – und auch ein bisschen nach vorne
Dieter Kosslick hat eine Autobiografie geschrieben. „Immer auf dem Teppich bleiben“ heißt die bunte Sammlung lustiger Anekdoten, in denen sich der Darling aller spiegelt, der mit unerschrockener Laune die Ökonomisierung der Filmkultur betrieb und die „Berlinale“ in ein Gute-Laune-Festival ohne künstlerischen Biss verwandelte. Am Ende aber wagt er einen Ausblick, der in der Kinokrise eine Chance auf mehr Partizipation erkennt.
Als er nach Hamburg kam, erzielte die SPD dort
noch absolute Mehrheiten; auch in Nordrhein-Westfalen, als er nach Düsseldorf wechselte.
Als er Düsseldorf verließ – die erste rot-grüne Koalition hatte im Bund gerade
Helmut Kohl in den Ruhestand geschickt – waren es immerhin noch gut 43 Prozent.
Stünde die SPD heute in Nordrhein-Westfalen zur Wahl, könnte sie mit 17 Prozent
der Stimmen rechnen, im Bund mit 15 Prozent. Und als er nach Berlin zog, hatte
Oskar Lafontaine die Regierung Schröder schon wieder verlassen und den
Parteivorsitz aus Protest gegen Schröders Wirtschaftspolitik niedergelegt.
Unter Beteiligung der Sozialdemokratie war der erste Angriffskrieg von deutschem
Boden nach 1945 ausgegangen sowie mit der „Agenda 2010“ die Liberalisierung des
Sozialsystems, die sich die CDU mit einem Sozialpolitiker wie Norbert Blüm
niemals getraut geschweige davon geträumt hätte.
Das System Kosslick ist ohne Konjunktur
und Wandel der Sozialdemokratie nicht vorstellbar. Auf den Stationen Hamburg,
Düsseldorf und Berlin veränderte er die Vorstellung von Filmkultur in Deutschland
wie wenige andere in den letzten 30 Jahren. Jetzt veröffentlichte Dieter
Kosslick seine Autobiografie im selben Verlag wie jüngst die
illustre sozialdemokratische Herrenrunde Michael „Mike“ Naumann („Glück gehabt“), Olaf Scholz („Hoffnungsland“) und Gerhard
Schröder („Entscheidungen“), wahrscheinlich in der Annahme, der
Nachwelt Rechenschaft schuldig zu sein. Daher beginnt man die Lektüre am besten
dort, wo das Buch endet, bei der ausladenden Danksagung, die in Art und Umfang an
ähnliche Gefälligkeitsdienste in Festivalkatalogen erinnert. Dort wird vielen
gedankt, auf denen das System ruhte, Leuten wie Hans-Ulrich Klose oder Wolfgang
Clement.
Kosslick sollte Hamburg und
Nordrhein-Westfalen, wo er als Filmförderer tätig war, neben Berlin und München
zu Medienstandorten machen. Und in Berlin dem deutschen Film zur erwünschten Größe
verhelfen. Das zumindest klappte nur numerisch, denn der künstlerische Erfolg
kam mit Maren Ade in Cannes. Allerdings war von Filmkultur in
Hamburg und Nordrhein-Westfalen nicht mehr viel übrig, als er ging, und selbst
auf der „Berlinale“ nicht. Eine autonome kulturelle Filmförderung gibt es
nirgendwo mehr in Deutschland, seitdem das System Kosslick zum Maßstab wurde, wie
man wirtschaftliche Anliegen den Menschen als kulturelle andrehen kann. Das ist
Teil der Wahrheit, die das Buch nicht erzählt und die der Autor vielleicht auch
nicht wahrhaben will, wenn man die Belege seiner Erfolgsbilanz betrachtet, die Kosslick
hier zwischen Buchdeckeln auflistet. An keiner Stelle wird eine Persönlichkeit
sichtbar, die für etwas eintritt, das ästhetisch noch nicht durchgesetzt ist,
das künstlerisch noch zu verstehen oder gegen den Geschmack der anderen erst
durchzusetzen wäre, notfalls allein.
Seine Nachfolger in Hamburg und Düsseldorf
– auch denen gilt noch der Dank – verrichten ihr finsteres Förderwerk von künstlerischem
Anspruch unberührt im Distinktionswettlauf der Länder. Davon haben wir uns in
Nordrhein-Westfalen bis heute nicht erholt. Zuletzt hat die für Kultur dort eigentlich
zuständige Ministerin einen Referentenentwurf für ein Kulturfördergesetz
verbreitet, in dem von Film, Kino und Medienkunst mit keinem Wort die Rede ist
und dessen Kulturverständnis ums Jahr 1900 herum endet. Das wird so nicht
durchgehen, aber für „Medien“ ist seit Kosslick, also seit dem Jahr 1991,
allein die Film- und Medienstiftung des Landes zuständig, die im Auftrag ihrer
Gesellschafter eindeutig wirtschaftliche Interessen verfolgt. Seit Kosslicks
Weggang musste bereits zweimal die restlose Übertragung der Brosamen, die unter
„Filmkultur“ im Landeshaushalt ressortieren, darunter auch die
Festivalförderung, in den rund dreißigmal größeren Etat der Stiftung abgewehrt
werden, gegen massive Drohgebärden aus der Ministerialbürokratie.
„Standortpolitik“ hieß das Primat der Wirtschaft
bei Wolfgang Clement, was den Umbau der Sozialdemokratie weit vor Tony Blair
und Gerhard Schröder einläutete, der zu ihrem Niedergang führte, weil die wirtschaftliche
Prosperität zu einseitig ausfiel, was selbst noch die merkten, die man für dumm
verkaufen wollte. Dafür taugt immer auch ein bisschen Kultur, solange die nicht
stört. Kosslick lässt immerhin erkennen, dass er so ganz nicht mit allem einverstanden
ist, was aus seinen Hinterlassenschaften wurde: „Leider sind diese
ungewöhnlichen Ansätze, den Kinobesuch zu intensivieren und das Kino
städtebaulich wieder zu einem kulturellen Zentrum zu machen, nach meinem
Wechsel zur Berlinale nicht weiterverfolgt worden.“ Klarer, grundsätzlicher
wird er weder hier noch an anderer Stelle des Buches. Doch Kosslick ist der
Mann, den Hans-Ulrich Klose holte, weil er keinem Lager der SPD zuzurechnen war,
weil er Darling aller war, sieht man einmal von der „bösartigen Filmkritik“ ab.
Ein Mann mit solchen Fähigkeiten hätte Bedeutendes in Politik, Werbung oder
Wirtschaft vollbringen können.
Ein
Festival passend zur Investorenhölle
Hinterher warf man ihm vor, dass er den
Job gemacht hat, dessentwegen man ihn geholt hatte, ungeachtet seiner
performativen Eitelkeit, besser und charmanter als alle anderen. Einen Auftrag
erfüllt, wie Kosslick sagt.
Zur Erfüllung dieser Mission waren
ausgewiesene Kenntnisse von Filmgeschichte und -ästhetik weder verlangt noch erheblich,
ja eher hinderlich, denn es ging um mehr, ums ganz große Rad der Filmnation, nämlich
die Übertragung von Standortpolitik, der Ökonomisierung von Filmkultur auf das
größte deutsche Filmfestival. Alle anderen Festivals hierzulande wären dafür
einfach zu popelig gewesen. Kosslick zitiert auch nach 20 Jahren noch ungebrochen
selbstbegeistert seine Antwort auf die Frage einer Berliner Zeitung, wie er
sich die „Berlinale“ wünsche: „Groß, stark, mächtig, gläsern, kosmopolitisch,
witzig, ein bisschen wie der Potsdamer Platz.“ Es musste also ein Festival
passend zur Investorenhölle her, damit es dort nicht alle Tage im Jahr so
trostlos aussieht, wie es dort im Grunde eigentlich ist.
Die deutsche Filmbranche, angefixt durch
immense Zuwüchse an Filmfördermitteln, die zu immer mehr Filmen führt, die immer
weniger Leute sehen wollen, reklamierte Zugriff auf „ihr“ Festival. Den hat sie
bekommen, ebenso wie auf den Deutschen Filmpreis durch eine Filmakademie, in
der seitdem Mehrheitsgeschmack statt fachlichem Verstand über Qualität
entscheidet. Auf einmal liefen drittklassige Filme mit Beteiligung der
deutschen Filmförderung bei der Eröffnung und im Wettbewerb der „Berlinale“.
Dieser Gefälligkeitsdienst hat dem Festival und dem deutschen Film mehr geschadet
als geholfen, was in diesem Land kaum einer bemerkt, weil Filmförderung hier
bessere Filme gar nicht ermöglichen will und wirklich kommerziell erfolgreiche gar
nicht ermöglichen kann. Kosslick lieferte fast allen in Branche und Politik die
nötigen Darstellungsmöglichkeiten im Übermaß an deutschem Mittelmaß, sozusagen
den Spiegel an der Wand, allen das Ihre, allen den Dieter. Das hat de Hadeln,
der das alte Berlin verkörperte, verstockte Männlichkeit, schlechtes Essen und
noch schlechtere Anzüge, also echt kein Sympathieträger, nicht zugelassen; der
wurde bis zum Schluss kein Moritz. Bei ihm mussten sie sich Filme von
Achternbusch und Straub im Wettbewerb anschauen. Das wird in Deutschland nicht
verziehen.
Filme
wie on demand
Bei Kosslick liefen in Berlin die Filme
wie on demand. Schon der BAP-Film von Wim Wenders samt Premierenfeier
im Stil des Kölschen Karnevals in Kosslicks erstem Jahr erscheint heute als
groteske Fehlleistung der Festivalleitung, als Ausdruck falscher Haltung. Er erhob
den Durchschnitt bei der „Berlinale“ zum Standard, während viele wirklich interessante
Filmemacher nach Cannes und Venedig flüchteten, wo künstlerische Leitungen
wenigstens internationale Maßstäbe anlegten und garantierten. Die deutschen
Filme blieben notfalls zu Hause, wenn sie nicht mithalten konnten. Gutes Essen
macht noch kein gutes Festival. Unerschrockene Laune und teutonische
Selbstgerechtigkeit, die Kosslick wie Mikrowellen-Popcorn produzierte, halfen
lange Zeit, über die künstlerische Verarmung der Veranstaltung hinwegzutäuschen,
die auch die hauseigene Retrospektive meilenweit hinter Locarno und Wien zurückfallen
ließ – und selbst das „Forum“ in Mitleidenschaft gezogen hatte, das einmal das
beste Filmfestival der Welt, obwohl nie eigenständig, gewesen war.
Dann drehte sich im Bund wie in
Nordrhein-Westfalen der politische Wind. Den neuen Kräften war die Kunst am
Film so gleichgültig wie der Sozialdemokratie, aber keineswegs Kosslicks
One-Man-Show, die erstmals relevante Fragen unseres Umgangs mit der Umwelt auf
die kulturelle Agenda brachte. Die Cinephilen, denen Kosslick immer ein Graus
war, weswegen er sich stets lieber an harmloseren Umgang hielt, dem er an
Intelligenz überlegen war, sollten glauben, dass sich mit Kosslicks Demission alles
wieder zum Besten der Kunst wenden würde. Daher zauberte die
Kulturstaatsministerin für den Feingeist den Kurator aus dem Hut und schob, da hatte
sich die Begeisterung noch nicht gelegt, ein paar Tage später noch jemand
anderen fürs Grobe hinterher. Die Erbfolge von der Filmförderung zur
Festivalleitung hat uns wahrscheinlich nur der offene Brief der 79 Filmemacher erspart,
der ein paar Kenntnisse mehr für die Position eingefordert hatte.
Einen derartigen Zugriff auf eine
künstlerische Leitung gab es noch nie. Eine wirklich starke künstlerische
Leitung, die ein Programm nicht nur auf die Zusammenstellung von ein paar
Filmen beschränkt sieht, war nicht mehr erwünscht. Ebenso wenig wie eine
politische, die sich kritisch auf gesellschaftliche Gegenwart beziehen könnte,
ja müsste, wenn ein Festival noch irgendeine Dringlichkeit in dieser Welt behaupten
wollte. Der Staatsstreich machte Schule. Auch an anderen Orten, in Leipzig, Wien,
Frankfurt, Rotterdam, wurden im Filmbereich künstlerische Leitungen bestellt,
die zwar ihren Job sicherlich gut verstehen, aber rein gar nichts von dem Ort,
an dem sie ihn ausüben, weil sie nicht einmal die Landessprache verstehen,
geschweige denn den Rest. In Leipzig ist das schiefgegangen, weil eine
international agierende Kultursöldnerin nicht so recht in die soziale Kultur
des Orts passte. In Locarno geht’s regelmäßig schief.
Für eine
Demokratisierung der Filmkultur
Nach 200 Seiten, in denen eine Anekdote
die nächste und jede Hoffnung auf einen Gedanken verjagt, wagt Kosslick dann
einen überraschenden Ausblick, den man fast eine ernsthafte Position nennen könnte
und die ihn für den überwiegenden Teil von Branche und Politik, in der die
Wirtschaft, aber nicht das Publikum eine Lobby hat, reichlich verdächtig machte,
wäre es mehr als nur Geklimpere von Kleingeld.
Kosslick beginnt angesichts der strukturellen
Krise des Kinos von einer Demokratisierung von Filmkultur zu schwärmen. Da ist
er wieder, der Sozialdemokrat, der bei seiner Ablehnung der Atomkraft bleibt, auch
wenn er seinen Job in der Hamburger Senatskanzlei riskiert, dem das Wohl aller
näher als die Interessen weniger ist: „Streaming wäre ein Zugewinn an
Demokratie, der es einer weit größeren Menge an Menschen ermöglichen würde, an
der Filmkultur teilzuhaben. Denn der gegenwärtige Zustand des Kinos ließe sich
auch mit einem anderen Begriff als dem der Krise beschreiben: dem der
Evolution. (…) Streaming bedeutet vielleicht nichts anderes als einen
evolutionären, vielleicht revolutionären Sprung in der Geschichte des Kinos, in
der sich neue Formen der Filmrezeption etablieren und neben den traditionellen
bestehen.“ Im Klartext: Wer das Kino wirklich liebt, braucht auch einen Plan im
Interesse des Gemeinwohls. Wir stehen im Dienst der Sache, nicht der
Auftraggeber. Diesen Auftrag kann man nicht richtig erfüllen, nur anständig.
Das aber bleibt leider wie alles im Buch
nur eine Andeutung, halbwegs mutig, wie Kosslicks Bestellung von Charlotte
Roche als Moderatorin der „Berlinale“, auf die dann die biedere Anke Engelke
wie das Jüngste Gericht folgte. Es dürfte aber gleichermaßen jenen missfallen,
die im Kino ihr Geschäft machen, wie denen, die Kino als das Naturrecht der
Happy Few ansehen. Aber möglicherweise hätte es unter Kosslick ein
entschiedeneres und frühzeitigeres Bekenntnis des Festivals zu einer digitalen
Strategie gegeben, einer möglichen Zukunft sogar im Internet. Dann hätte die „Berlinale“
im Netz vorangehen können, wie sie das im Bereich Klimaschutz tat. Jetzt ist
sie den anderen nur gefolgt, notgedrungen. Das Umdenken hätte schon einsetzen
müssen, als das Premierenkino am Potsdamer Platz das Festival vor die Tür setzte,
längst vor der Pandemie. Noch spielt die Kapelle auf der Titanic.
Immer auf dem Teppich bleiben. Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos. Von Dieter
Kosslick. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 336 Seiten, zahlreiche Abbildungen,
25 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.
Der Autor Lars Henrik Gass ist Leiter
der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, Mitherausgeber einschlägiger
filmkultureller Werke und Autor der Bücher „Das ortlose Kino. Über Marguerite
Duras“, „Film und Kunst nach dem Kino“ und „Filmgeschichte als Kinogeschichte.
Eine kleine Theorie des Kinos“. Auf filmdienst.de erscheinen regelmäßig Essays
von ihm, unter anderem