Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: Eine „Woche der Kritik“ als reine Online-Veranstaltung, wo doch das Schaffen eines öffentlichen Resonanzraums, der Austausch, die Debatte zentrale Ziele sind? Doch die Veranstaltung, die auch 2021 wieder parallel zur „Berlinale“ stattfand, fand Wege, um sich auch in Zeiten des „Social Distancing“ selbst treu zu bleiben.
Kritik ist manchmal besonders schön, wenn sie absichtlich missverstanden wird. So erging es der amerikanischen Filmjournalistin B. Ruby Rich einst, als ihr eine Kollegin vorwarf, sie rezensiere Filme nicht einfach neutral, sondern stehe für sie ein – „You don’t review films, you champion them!“ Was als Rüge gemeint war, trug Rich fortan wie ein Ehrenabzeichen vor sich her, wie sie sagt. Sie sehe sich nämlich als eine Übersetzerin für ihre Leserschaft, immer im Versuch, freimütig und bescheiden über Filme nachzudenken, sinnierte Rich in ihrem Eröffnungsvortrag der diesjährigen „Woche der Kritik“, die zwischen 27. Februar und 7. März stattfand – dieses Jahr, notgedrungen, zum ersten Mal digital. Am Konzept des Festivals änderte dieser Umstand kaum etwas: Wie jedes Jahr folgten auf die zweitägige Konferenz kuratierte Blöcke aus sieben Filmprogrammen und Debatten.
„Kino öffnet ein Fenster zur Welt und vergrößert so das Zimmer“
Rich, eine Instanz der amerikanischen Filmkritik und seit 2013 Herausgeberin der Zeitschrift „Film Quarterly“, umkreiste mit ihren erfrischend kursorischen Ausführungen das Thema der Konferenz aus Kritikerperspektive, aber auch aus ihrer Erfahrung als Kuratorin und Festivalmacherin: „Konsequentes Handeln, inkonsequentes Kino“. Nachdenken und Schreiben über Film geschehe für sie in einer Art sozialer Osmose, so Rich, sei also eine übergreifende Konversation mit der Welt, als Austausch von Wissen und Wahrnehmung – angestoßen durch Film und Kino. Mit Verweis auf das Hotelzimmer, aus dem sie zugeschaltet war, erinnerte sie: „Kino öffnet immer ein Fenster zur Welt und vergrößert so das Zimmer.“
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Diese Horizonterweiterung durch Kino, sie fehlt gerade während des Lockdowns schmerzlich, denn sie ist durch reines Binge-Watching kaum herstellbar. Es fehlen der Austausch, die Debatte, auch der Streit über Film und all seine Implikationen. Das ist natürlich in den verschiedenen Filterblasen mehr oder weniger direkt spürbar. Die Gespräche haben sich womöglich analog zu den Filmen ins Netz verlagert, finden mitunter auf Spaziergängen mit Kolleginnen und Kollegen, mit Freunden und Freundinnen statt. Doch was fehlt, ist der Resonanzraum, der die Filterblasen zusammenbringt: Kritiker, Wissenschaftler, Publikum, Gelegenheitskinogeher. Festivals fällt genau hier schon immer eine zentrale Rolle zu, auch wenn man es oft gar nicht aktiv gemerkt hat. Ohne die Kinos als klassischem Raum der Zusammenkunft tut sich ein schwarzes Loch auf, das direkt wahrnehmbar ist, weil es nicht überall sofort überbrückt werden kann.
Diese Leerstelle ist aktuell so massiv wie noch nie, denn die „Woche der Kritik“ findet traditionsgemäß zeitgleich zur „Berlinale“ statt, als entschleunigte Ergänzung und Raum zum Austausch. Dieser Aufgabe als Resonanzraum ist sich das Festival bewusst, denn es wurde als solcher ins Leben gerufen und setzt seit jeher darauf, in kuratierten Programmslots zwei und mehr Filme miteinander in Dialog treten zu lassen und dieses Zwiegespräch auch in anschließenden Debatten auf Kritiker und Publikum auszuweiten. Konversation ist hier nicht nur Begleiterscheinung, sondern Teil des Programms, und das ist spürbar.
Eine lebendige Filmkultur bewahren
Die Zweiteilung der diesjährigen „Berlinale“ in ein Branchen- und Presseevent zum regulären Termin und Publikumsvorführungen im Sommer lässt das Kinopublikum nun in dieser Woche doppelt außen vor. Für Filmemacher, Kinos und Zuschauer sei das zwar keine optimale, doch die bestmögliche Lösung, so die „Berlinale“. Doch wer sich auf der Streaming-Plattform umsieht, die der Presse zur Verfügung steht, dem weht genau diese Leere ins Gesicht: Festivalfilme nahezu gänzlich ohne Kontextualisierung, eine nackte Oberfläche, die danach verlangt, die Filme so schnell wie möglich durchzubingen (und für alle, denen es nicht schnell genug geht, gibt es einen Button, der die Abspielgeschwindigkeit erhöht – kein Witz). Debatten können nur unter Kolleginnen und Kollegen stattfinden, Filmkritik in der eigenen Filterblase.
Diese Leerstelle versuche sein Team auch mit dem digitalen Festivalangebot zu füllen, so der seit dieser Ausgabe amtierende künstlerische Leiter Dennis Vetter in seiner Begrüßung, „idealistisch und stur“. Es gehe ihnen darum, eine lebendige Filmkultur zu bewahren und erlebbar zu machen. Beinahe beiläufig gab Vetter gleich zu Beginn sein Amt als künstlerischer Leiter wieder ab, um zu versuchen, das Festival als kollektives Projekt zu etablieren – eine bescheidene Geste, die jedoch zeigt, dass auch das Festival selbst bis in die Teamstruktur der von Rich propagierten sozialen Osmose verschrieben ist.
Kontextualisierung und Diskurs sind zentral
Die oft jeweils als Einzelorganismen wahrgenommenen Autonomien von Künstler, Kunstwerk und Publikum bedingen einander, das wurde in den Panels der Konferenz deutlich. Die Erhaltung und Belebung dieses fragilen Netzwerks machen die „Woche der Kritik“ zu einem Resonanzraum, der Publikum, Kontextualisierung und Diskurs genauso wichtig nimmt wie das einzelne Filmwerk. Keines der Elemente kann allein im luftleeren Raum existieren. Das merkt man beim Zusehen bisweilen ex negativo, wenn einem erst aufgeht, was man alles vermisst und aufgegeben hat, wenn man es live vorgeführt bekommt.
In den Tagesprogrammen trifft dann beispielsweise unter dem Motto „Streitgespräch“ der neue Film des japanischen Arthouse-Meisters Sion Sono, „Red Post on Escher Street“, auf den Kurzfilm „Dracula Sex Tape“ des Frankokanadiers Olivier Godin: zwei Filme über das Filmemachen, der eine als wohlwollend-absurde Liebeserklärung an die Zunft der Nebendarsteller inszeniert, der andere als fünfminütiges Dauerdialogfeuerwerk über die emanzipatorische Geste des Zigarettenrauchens und zugleich Kopfkino über einen aufstrebenden Filmemacher und sein überambitioniertes Projekt.
Geister des Kinos
Unter dem Motto „Kunstsprache“ treffen die Filmemacherin Caroline Pitzen mit „Freizeit oder: das Gegenteil von Nichtstun“ und die Regisseurin Camille de Chenay mit „A Museum Sleeps“ aufeinander. Während Pitzens Porträt nüchtern fünf junge Politaktivisten in Berlin auf der Suche nach eigenen Ausdrucksformen beobachtet, immer im gedanklichen Hin und Her zwischen eigener Erfahrung und politischer Realität, inszeniert Chenay einen jungen Filmemacher als Bändiger einer ganzen Schar von Geistern des französischen Kinos. In seinen Träumen fließen verschiedene Filmsprachen ineinander, gehen Hand in Hand oder stellen einander infrage. In diesem Spannungsfeld kann letztlich Selbstfindung durch ein Einüben einer eigenen Sprache stattfinden.
Wie anregend auch eine weit gefasste und kursorische Kontextualisierung sein kann, zeigte der norwegische Künstler Arne Hendriks, der mit seinem Projekt „The Incredible Shrinking Man“ interdisziplinäre Projekte anstößt, die sich mit der weltweiten Überbevölkerung auseinandersetzen. Ausgehend vom titelgebenden Film „The Incredible Shrinking Man“ (deutscher Titel: „Die unglaubliche Geschichte des Mister C.“) von Jack Arnold aus dem Jahr 1957, beschäftigt er sich zwar spielerisch, jedoch durchaus ernsthaft mit der Forderung, dass die Menschheit nach physischer Verkleinerung streben sollte, um das Ungleichgewicht aus Ressourcen und Verbrauch wieder ins Lot zu bringen – 50 Zentimeter Körpergröße müsse das Ziel sein, damit ließen sich gleich mehrere zivilisatorische Missstände ausgleichen. Womit er die wechselseitige Bereicherung von Kino und Lebenswelt bei der Bewältigung von komplexen Diskursen kreativ verdeutlicht und zeigt, wie einfach kurze Perspektivwechsel auch das eigene Denken voranbringen und neu ausrichten können.
Angenehme Überforderung, unterhaltsamer Perspektivwechsel
In diesem Prozess kommt es natürlich auch zu überfordernden Situationen, etwa bei dem persönlich gefärbten Vortrag „In Search of Incoherence – Desktop Aesthetics, Race, and Practices of Non-enclosure“ von Filmemacher Suneil Sanzgiri, der aus digitalen Bildfehlern und Inkonsistenzen neue Zusammenhänge ableitet und mit ideologischen Denkmustern verknüpft. Beim Sichten seines Beitrags im Filmprogramm, „Letter From Your Far-Off Country“ hallen seine Überlegungen wider und beantworten offene Fragen. Dass alle Vorträge und Panels, aber auch die Textbeiträge und der parallel angelegte Blog zum Festival auch nachträglich online abrufbar sind, ist ein Mehrwert, der weit über reguläre Programmheft- und Katalogtexte hinausgeht – ein Archiv aus Perspektiven und Beiträgen, die sich auch untereinander vernetzen und zusammendenken lassen. Aus zunächst diffusen Verständnislücken wird angenehme Überforderung, unterhaltsamer Perspektivwechsel, verwunderte Neugier.
So ist der diesjährigen „Woche der Kritik“ womöglich auch ein kleines Paradestück für die Zukunft des Kinos und der Festivals als Schnittstelle zwischen Film und gesellschaftlichem Diskurs gelungen: Denn sie zeigt, dass ihr Konzept der kurzweiligen wie herausfordernden Kontextualisierung als Gegenentwurf zu reinen Streaming-Programmen einen Mehrwert schafft. Der geht weit über die Summe der Einzelelemente hinaus, weil dieser Resonanzraum nicht nur für sich stehen bleibt, sondern auch noch lange nach dem letzten Stream weiterarbeitet. Dass dieses Konzept auch digital funktioniert, kann mittelfristig sogar ein Antwortversuch auf die cinephile Grundsatzfrage sein, „to stream or not to stream“, in jedem Falle jedoch eine gangbare virtuelle Erweiterung dieses lebensweltlichen Zimmers und Denkraums namens Kino.