Keiner kannte die DEFA so gut wie Ralf Schenk, der als Publizist, aber auch als Kulturmanager entscheidend dazu beigetragen hat, dass die 44 Jahre ostdeutscher Kinematografie lebendig geblieben sind. Am 17. August ist der begnadete Autor, der den Filmdienst viele Jahre lang mit Kritiken und Porträts bereichert hat, im Alter von 66 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit gestorben.
Vor etwas mehr als einem Jahr, im Nachgang zur Corona-Berlinale 2021, schreckte uns eine Mail von Ralf Schenk auf, in der er seinen Rückzug als Filmdienst-Autor ankündigte, nachdem er rund 30 Jahre lang mit Kritiken, Porträts, Nachrufen, Festivalberichten und vielen anderen Texten erheblich zur Vielfalt und Relevanz der Zeitschrift beigetragen hatte. Zumindest teilweise wollte er sich zurückziehen, um sich vermehrt anderen, weniger tagesaktuellen Aufgaben widmen zu können. Die Sorge, dass sich hinter diesem Schritt etwa anderes verbergen könnte, Ärger, Unmut oder ein stilles Zerwürfnis, zerstreute er lachend und mit der stillen Größe, die ihn als Menschen, aber auch als Journalisten und Filmkritiker auszeichnete: „Das würde ich Euch sagen“.
Mehr Worte brauchte Ralf Schenk selten, um für Klarheit zu
sorgen, und so klangen auch seine Pläne für eine Handvoll neuer Bücher, die
sich bereits in diesem oder jenem Stadium befanden, unaufgeregt, fast nüchtern,
obwohl jedes mit Herzblut in Angriff genommen worden war. Etwa ein Buch über
die 70mm-Filme der DEFA, ein Grundlagenwerk über den DEFA-Dokumentarfilm; die
lange ersehnte Monografie über Slatan Dudow. „Ich bin im Moment sehr mit dem
Dudow-Buch beschäftigt, das bald fertig werden soll. Insofern muss ich um
Verständnis bitten, dass ich dieses schöne Thema (eine Reflexion auf
sowjetische Antikriegsklassiker wie „Iwans Kindheit“ oder „Komm und sieh“, Anm.
d. Red.) nicht übernehmen kann“, schrieb er Ende Mai noch voller Tatendrang.
Die meisten dieser Projekte müssen nun andere fortführen, oder sie bleiben bloße Absicht. Denn am 17. August ist Ralf Schenk nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 66 Jahren verstorben.
Ein freundschaftlich verbundener Kollege
Sein plötzlicher Tod schockiert und reißt eine schmerzhafte Lücke. Nicht nur, weil damit einer der wichtigsten Vermittler der DEFA-Geschichte verstummt, der wie kaum ein anderer dazu beigetragen hat, dass die 44 Jahre der ostdeutschen Kinematografie publizistisch lebendig geblieben sind. Sondern zuvorderst, weil wir in Ralf Schenk einen klugen, umfassend gebildeten, in sich ruhenden Autor, aber auch einen freundschaftlich verbundenen Kollegen verlieren, der am Geschick von filmdienst.de regen Anteil genommen hat und mit Rat und manchmal auch der beherzten Tat zur Seite gestanden ist.
„Wie geht es Euch?“, lautet stets eine seiner ersten Fragen, wenn wir uns während der „Berlinale“ auch persönlich trafen und nach ein paar Sätzen über das aktuelle Festivalgeschehen schnell bei grundlegenderen Entwicklungen anlangten, die häufig der Filmpublizistik und dem Stand der Filmkritik in Deutschland galten. Die publizistischen Wandlungen beim Filmdienst hat er dabei so wohlwollend begleitet wie mit kritischen Anregungen bedacht.
Seine Zusammenarbeit mit dem Filmdienst reicht bis in
die Nach-Wendezeit zurück, als er an dem monumentalen Standardwerk „Das zweite
Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992“ arbeitete. Die Frage
aus der Einleitung, was die DEFA gewesen sei, eine „Traumfabrik im Dienste der
SED oder ein Refugium für nachdenkliche Filmbesessene, ein Ort künstlerischer
Wahrheitssuche oder Honeckers Hollywood“, stieß in der Redaktion auf offene
Ohren. In Ralf Schenks allererstem Filmdienst-Beitrag „Schmetterlinge im Regen“
im Herbst 1994 ging es dann auch um drei „verbotene“ DEFA-Filme „Ritter
des Regens“, „Fräulein Schmetterling“ und „Hände hoch oder ich schieße“, die nach dem berüchtigten XI. Plenum 1966 im
Giftschrank gelandet waren.
Der studierte Journalist entpuppte sich aber bald nicht nur als Experte für DEFA- und osteuropäische Filme, sondern als begnadeter Autor von Porträts und Nachrufen, in denen sich eine staunenswerte Kenntnis der Filmgeschichte mit einem eleganten, unprätentiösen Stil verband und in aufmerksam beobachteten Details wesentliche Züge einer Persönlichkeit, ihres Schaffens und ihrer Zeit sichtbar machte.
Der Respekt vor den Lebensleistungen von
Filmschaffenden motivierte ihn wie wenige andere Filmjournalisten, an die Kunst
und das Leben von Menschen zu erinnern, die in seinen Augen zur Welt des Films
Wesentliches beigesteuert haben. Dabei waren ihm nicht nur die Großen der
Branche, die Stars vor oder hinter der Kamera wichtig, sondern auch die weniger
bekannten Kreativen aus den Gewerken; so widmete er in diesem Jahr nicht nur
den Regisseuren Frank Beyer und Ulrich Weiß
sensible Nachrufe, sondern würdigte auch das Schaffen des Kameramannes Otto Hanisch und warb mit Nachdruck dafür, auch an den Filmkritiker Heinz
Kersten und dessen Liebe zur osteuropäischen
(Film-)Kultur zu erinnern.
Die Kunst der Erinnerung
Im Bemühen, das Leben und Wirken eines Menschen in ein paar Absätzen aufblitzen zu lassen, entwickelte Ralf Schenk die feine Kunst, entscheidende Wegmarken einer Biografie mit respektvollen Urteilen, griffigen Zitaten oder prägnanten Nuancen zu verbinden, um so vielfach verstreute Erinnerungen wie einen Grabstein zu einem geistigen Bild zu verdichten.
Wesentliche Zusammenhänge eines Lebens entdeckte man so oft erst durch seine Nachrufe. Das gilt im übertragenen Sinn auch für ihn selbst, wenn man sich die Stationen seines bewegten Lebens vor Augen führt, wie sie etwa bei Wikipedia über ihn zusammengetragen sind. Schon in frühesten Zeiten kreiste sein Leben ums Kino und um Filme. Als Schüler veröffentlichte er erste Filmkritiken und leitete in Suhl den Jugendfilmclub, was er während des Studiums in Leipzig nahtlos fortsetzte. Redakteur-Jobs bei Zeitschriften wie „Film und Fernsehen“ oder „Die Weltbühne“ schlossen sich an, außerdem schrieb er für viele Publikationen.
Nach der Wende wurde er Mitarbeiter beim Filmmuseum Potsdam, Redakteur und Herausgeber zahlreicher filmhistorischer Werke, unter anderem auch für die DEFA-Jahrbücher (2000-2005) und die DEFA-Jahresjournale (2018-2020). Für den ORB und den mdr drehte er filmgeschichtliche Dokumentationen, für das Filmmuseum Potsdam interviewte er zahlreiche DEFA-Filmschaffende und Zeitzeugen, als Kolumnist war er von 1999 bis 2015 für die „Berliner Zeitung“ tätig. Als regelmäßiger Autor wirkte er neben dem Filmdienst auch beim „CineGraph“ oder dem „Lexikon des Kinder- und Jugendfilms“ mit.
Zu seinem reichen publizistischen Leben gehörten aber
auch seine mit viel Leidenschaft ausgeübte Tätigkeit für die Auswahlkommissionen der „Berlinale“
(2004-2019) oder im Filmbeirat des Goethe-Instituts (2014-2020). Acht Jahre
lang leitete Ralf Schenk außerdem mit Umsicht und politischem Weitblick die Geschicke der DEFA-Stiftung (2012-2022) und kämpft
erfolgreich für die Digitalisierung ihres Filmbestandes.
Dass die Rekonstruktion verbotener oder verschollener DEFA-Film wie „Die Schönste“ oder „Fräulein Schmetterling“ zu großen Teilen sein Verdienst war, ist eines der vielen bislang eher weniger bekannten Geheimnisse seines Lebens und Wirkens, in dem er als Ideengeber, Jurymitglied, Moderator oder Kurator untergründig viele Spuren hinterlassen hat.
Bayreuth war ein Muss
Für seine Bemühungen um das deutsche Filmerbe wurde er
2020 von Monika Grütters mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt; schon im Jahr
2011 hatte ihn die Filmhochschule „Konrad Wolf“ zum Ehrendoktor ernannt. Beides
trug er nicht vor sich her. Dafür war er viel zu bescheiden und auch stets mehr
an den neuesten Werken der Kultur interessiert. Zu denen gehörte bei Weitem nicht nur Filme oder
Literatur, sondern beispielsweise auch Musik, etwa die Oper, wie man jetzt Nachrufen
entnehmen kann; die Bayreuther Festspiele waren für ihn und seine Frau sogar Pflicht. So offenbaren sich auch im
erinnernden Rückblick an Ralf Schenk immer neue Seiten seiner Persönlichkeit, was dem
passionierten Nachrufe-Schreiber sicher ein stilles Lächeln entlockt hätte.