© Eurosport (Bildschirmbild von der Live-Übertragung den Australian Open 2023)

Leders Journal (XIII): Der Ball war aus!

Bei sportlichen Mega-Events wie der Fußball-Weltmeisterschaft glaubt man sich durch Live-Übertragungen mitten im Geschehen. Doch das ist eine arge Täuschung

Veröffentlicht am
07. Juli 2023
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Bei Live-Übertragungen im Fernsehen glaubt man gerne, als Augenzeuge am Geschehen teilzunehmen, ja vielleicht sogar mehr zu sehen, als wenn man vor Ort wäre. Doch das ist eine arge Täuschung. Denn man sieht nur, was einen die Regie zu sehen erlaubt. Überdies mischen zunehmend Algorithmen mit, die das Gewusel vor der Linse in glasklare 3D-Animationen „übersetzen“. Mit der Wiedergabe von Wirklichkeit haben diese Modellbilder allerdings wenig zu tun.


Live-Übertragungen des Fernsehens sind besondere Formen dessen, was man allgemein gesprochen als filmischen Dokumentarismus bezeichnen könnte. Ihre Verheißung lautet: Das, was am Fernsehapparat zu sehen und zu hören ist, sei genau das, was sich am Ort des Geschehens abspielt. Wer also am Fernsehapparat zuschaut und zuhört, fühlt sich als Augenzeuge des Ereignisses. Genau dieses Gefühl des Augenblicklichen fehlt dem klassischen Dokumentarfilm, der ja stets im Nachhinein von dem jeweiligen Ereignis berichtet.

Neben den großen gesellschaftlichen Veranstaltungen wie etwa den Feierlichkeiten der britischen Krone waren es vor allem sportliche Ereignisse wie die Olympischen Spiele in Berlin (1936) oder die Fußballweltmeisterschaften der Schweiz (1954), die das Fernsehen als Live-Medium etablierten.


Live ist nicht live

Doch gerade die Live-Übertragungen von Sportereignissen drohen ihren dokumentarischen Charakter zu verlieren. Das hat zwei Ursachen. Die erste liegt im Interesse derjenigen, die diese Ereignisse organisieren und finanzieren, also den veranstaltenden Sportverbänden und den Ländern, in denen es ausgerichtet wird. Diese wollen eigentlich keine „dokumentarische“ Darstellung dessen, was sich ereignet, sondern eine Reproduktion von dem, was sie von vornherein als ideales Abbild definiert haben. Das konnte man zuletzt gut bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer beobachten, die vom 20. November bis zum 18. Dezember in Katar stattfand.

Die Regie eliminierte all das aus den Livebildern und -tönen, was die Veranstalter, also den Weltfußballverband FIFA und Katar als Ausrichterland, hätte stören können, etwa politische Kommentare auf den Zuschauerrängen über die Zustände in Katar, Solidaritätsgesten mit den politischen Protesten im Iran oder selbst leere Zuschauerränge. Stattdessen sah man regelmäßig Bilderfolgen, in denen begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer ihren Jubel vor und vermutlich auch für die Fernsehkameras zelebrierten, in denen prominente Ex-Fußballspieler, katarische Potentaten und immer wieder FIFA-Präsident Gianni Infantino dem Geschehen auf dem Rasen folgten.

Möglich wurde diese Verschiebung von einer dokumentarischen Darstellung, die sich dem, was wirklich geschieht, verpflichtet fühlt, zu einer Reproduktion eines Idealbilds des Geschehens durch eine Entscheidung der FIFA, seit 1998 die Live-Übertragung im eigenen Auftrag durchführen zu lassen und nicht mehr dem jeweils größten Fernsehsender (also 1966 in England der BBC oder 1974 in der Bundesrepublik Deutschland ARD und ZDF) anzuvertrauen. Die Firma, die seitdem die Live-Bilder und -Töne produziert, die den Fernsehsendern dann zur Verfügung gestellt werden, hält sich an einen Pflichtenkatalog des Auftraggebers FIFA, der eben vieles ausschließt und anderes verlangt.

Das Bild, das den Sendern von dieser Firma angeliefert wird, heißt im Fachjargon „Weltbild“, sodass man sagen kann, dass das televisionäre „Weltbild“ dem ideologischen Weltbild der Veranstalter zu entsprechen hat.


Der Trick mit der Wiederholung

Die zweite Ursache eines Abschieds des dokumentarischen Charakters bei Liveübertragungen konnte man während der WM in Katar ebenfalls beobachten. Denn seit einigen Jahren werden Fernsehbilder als Material benutzt, mit dem Videoschiedsrichter Entscheidungen der Schiedsrichter, die auf dem Rasen stehen, überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Diese Videoschiedsrichter entscheiden aber nicht am Live-Bild, sondern anhand der Aufzeichnungen, die ihnen aus vielen Kameraperspektiven zur Verfügung stehen und die sie in Zeitlupendarstellung betrachten können.

Diese Wiederholungsbilder gehörten seit den 1970er-Jahren zum Repertoire der Live-Übertragungen. Mit ihnen konnten sich die Reporter, aber auch die Zuschauer ein eigenes Bild vom Geschehen machen, über das der Schiedsrichter ein Urteil fällte. In den Live-Übertragungen von Katar wurden diese Wiederholungsbilder nun aber erst dann eingespielt, nachdem sich die Videoschiedsrichter ihr Urteil gebildet hatten. Sie dienten also allein der Bestätigung des jeweiligen offiziellen Urteils.

Bildschirmfoto einer "halbautomatischen" Abseitserkennung (Das Erste/Sportschau)
Bildschirmfoto einer "halbautomatischen" Abseitserkennung (© Das Erste/Sportschau)

Hinzu kam noch etwas anderes: Erstmalig wurde bei dieser WM ein Verfahren bei der Überprüfung eines Abseitsverdachts angewandt, das die FIFA als „halbautomatisch“ anpries. Bei diesem Verfahren wird mittels Bilddaten, die mehrere Spezialkameras aus unterschiedlichen Perspektiven aufnehmen, und weiteren Daten, die vom Spielball kommen, ein dreidimensionales Modellbild generiert, in dem die betreffenden Spieler im Moment der Ballabgabe aus der umgebenden Wirklichkeit herausgerechnet und exakt im Raum positioniert sind. Dieses Modellbild können die Videoschiedsrichter nun aus allen Richtungen betrachten, um selbst kleinste Unterschiede in den Raumpositionen feststellen zu können. „Halbautomatisch“ nennt die FIFA das Verfahren, weil die Videoschiedsrichter dieses Modellbild noch beurteilen, also interpretieren.

Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis diese Entscheidung vom Computer übernommen wird. Wie das geschieht, konnte man dieser Tage bei den Live-Übertragungen vom Tennisturnier der Australian Open in Melbourne verfolgen. Hier verzichtete man zum zweiten Mal auf den Einsatz von Linienschiedsrichtern, die bislang darüber entschieden, ob ein Ball noch im Feld oder außerhalb landete. Stattdessen wird das Geschehen auf dem Platz von mehreren Spezialkameras aufgenommen, aus deren Daten in Echtzeit die Position des Balls beim Aufprall auf dem Boden bestimmt und so ein Urteil automatisch ermittelt wird. Dieses Urteil wird aber dann von menschlichen Stimmen, die man vorher archiviert hat, ausgesprochen. Geht es eng zu, wird ein 3D-Bild generiert, das die Flugbahn und den Punkt des Aufsprungs für die Zuschauer vor Ort wie an den Bildschirmen wiedergibt.


Eine Interpretation ist nicht mehr nötig

Die Modellbilder beim Fußball wie beim Tennis geben sich als objektive und perfekte Wiedergabe eines realen Ereignisses. Aber das sind sie nicht. Sie beruhen auf Datenerfassungen, die nicht immer präzise sind, Fehler enthalten können oder durch Artefakte verfälscht sind. Zudem folgen sie einer bestimmten Vorstellung dessen, was sich sportlich ereignet, also der Annahme einer Flugkurve eines Tennis- oder Fußballs, und nicht dem realen Vorgang. Indem der Computer beim Tennis (und sicher bald auch im Fußball) die Entscheidung trifft, entfällt die Interpretation eines möglicherweise strittigen Bildes. Stattdessen liefert gleichsam das Urteil selbst das Bild, das dieses prompt bestätigt.

So geben die Live-Übertragungen zunehmend wieder, was dem ideologischen Weltbild der Veranstalter und Computermodellen entspricht.


In „Leders Journal“ analysiert der Medienwissenschaftler Dietrich Leder einmal im Monat symptomatische Details und Ereignisse der medialen Kommunikation, an denen sich grundsätzliche Tendenzen und Intentionen ablesen lassen.

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