© Julia Terjung/Studicanal ("Der vermessene Mensch")

Es ist höchste Zeit - Lars Kraume

Ein Interview mit Lars Kraume zu seinem Film „Der vermessene Mensch“

Veröffentlicht am
31. März 2023
Diskussion

Die Geschichte des deutschen Kolonialismus und der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika gehören zu den Leerstellen im Kino. Mit „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume startet jetzt ein Film über einen deutschen Ethnologen, der Ende des 19. Jahrhunderts die vorherrschende Rassentheorie hinterfragt, sich aber nicht aus der rassistischen Kolonialpolitik befreien kann. Ein Interview über die Rekonstruktion einer fast ausgelöschten Kultur, über Antihelden und dem Umgang mit deutscher Geschichte.


Woher kommt Ihr Interesse am deutschen Kolonialismus in Deutsch-Südwestafrika?

Lars Kraume: Ich war 1991 kurz nach der Unabhängigkeit in Namibia. Ich hatte in der Schule Geschichte als Leistungskurs und hätte eigentlich also viel über den deutschen Kolonialismus wissen müssen. Doch das war kein Schulthema. Das hat mich sehr irritiert, und ich habe dann sehr viel über diese Zeit gelesen. Nachdem ich mit „Der Staat gegen Fritz Bauer“ einen Film über die deutsche Geschichte gedreht hatte, beschäftigte mich der Gedanke, dass diese Kolonialzeit in Namibia doch noch immer sehr unbekannt ist. Parallel dazu kam die öffentliche Debatte über die Restitution der ethnologischen Sammlungen auf, über all die Kunstgegenstände und menschlichen Überreste, die aus der ganzen Welt gestohlen wurden und hier in irgendwelchen Sammlungen lagern. Es war also an der Zeit, darüber einen Film zu machen. Die Reparationszahlungen kamen auch nur schleppend voran und sind bis heute nicht zu einem Abschluss gekommen. All das kulminierte in einem anhaltenden Interesse meinerseits. Meine Frau schenkte mir dann Weihnachten 2018 den Roman „Morenga“, und ich sprach mit Uwe Timm über eine neue Adaption fürs Kino. Im Unterschied zum Roman hatte mein Drehbuch aber eine „White Saviour“-Geschichte, einen positiven Helden. Außerdem rückt der Roman die Soldaten ins Zentrum. Ich wollte aber nicht so nahe ans Kriegsgeschehen heran. So kam ich auf die Idee einer Reise mit einem Ethnologen, um die unmittelbaren Gewaltszenen zu umgehen und vielmehr den Protagonisten moralisch degenerieren zu lassen, damit er kein weißer Held mehr ist.

Lars Kraume beim Dreh von „Der vermessene Mensch“ (© Studiocanal GmbH/Willem Vrey)
Lars Kraume beim Dreh von „Der vermessene Mensch“ (© Studiocanal/Willem Vrey)

Kommt der Film jetzt zum richtigen Zeitpunkt? Ich frage, weil inzwischen Raubkunst an Benin zurückgegeben wurde und 2017 der Roman „Alle, außer mir“ von Francesca Melandri über den Abessinienkrieg erschienen ist, den Italien in den 1930er-Jahren geführt hat.

Kraume: Es ist schwer zu sagen, ob ein Film zur richtigen Zeit kommt. Ich fand, dass mein Film „Die kommenden Tage“ zur richtigen Zeit kam – im Gegensatz zum Publikum. Damals wurde ich gefragt, was das für düstere Prognosen seien, was für Flüchtlingsströme und was für Pandemien. Daniel Brühl sagt an einer Stelle in diesem Film: „Die Russen bereiten einen Angriff auf Europa vor.“ All das lag 2010 in so weiter Ferne, dass es für den Film anscheinend nicht die richtige Zeit war. Es kann sein, dass auch „Der vermessene Mensch“ zu früh kommt und sich niemand für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte interessiert. Dennoch ist es höchste Zeit. Die Forderungen der Herero und Nama nach Reparation und Restitution bestehen seit der Unabhängigkeit Namibias. Mehr als 30 Jahre nach der Unabhängigkeit sollte diese Geschichte eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland finden.


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Wie schwierig ist es, so ein großes Projekt auf die Beine zu stellen? Sie haben vor Ort in Namibia gedreht, mit teilweise recht großen Bauten.

Kraume: Es war schwierig. Namibia hat diese fantastischen Landschaften, aber in einem Land mit 2,5 Millionen Einwohnern ist die Filmindustrie nicht so groß wie etwa in Südafrika. In Kapstadt wollten wir aber schon deshalb nicht drehen, weil wir es auf einen Austausch zwischen dem namibischen und dem deutschen Team angelegt hatten. Das ist uns auch gut gelungen. In allen Departements haben Deutsche und Namibier zusammengearbeitet. Das Wesen eines Genozids ist die Auslöschung einer Kultur. Es ist ja nicht so, dass man an jeder Ecke von Namibia traditionelle Herero-Kostüme kaufen kann. Die wurden alle angefertigt, betreut von Esther Walz auf deutscher Seite und Cynthia Schimming auf namibischer Seite, einer Herero-Kostümbildnerin, die auch wissenschaftlich arbeitet und genau wusste, welche Bedeutung die Kostüme hatten. Die Kleidung ist mit Symbolen aufgeladen. Das kann man nicht nachlesen, da braucht man Menschen, die sich damit auskennen; die muss man erst einmal finden. Darum waren wir im Vorfeld oft in Namibia und haben uns mit vielen getroffen und unser Team aufgebaut. Dann kam die Finanzierungsphase, die von einer intensiven Schreibphase begleitet wurde. Dafür braucht man Partner, die verstehen, dass sich ein Drehbuch durch neue Erkenntnisse spürbar verändern kann. Da alles war schon ein komplexes Manöver.

Wie haben Sie mit den Kostümdesignerinnen zusammengearbeitet?

Kraume: In enger Abstimmung, was die ganze Zeit über sehr interessant war. Wenn man in den USA einen Western dreht, dann greift man auf eine Genre-Geschichte zurück, die lange zurückreicht. Da ist alles durchrecherchiert, man kann im Kostümfundus unkompliziert darauf zurückgreifen. Doch da „Der vermessene Mensch“ der erste Kinofilm zum Thema ist (abgesehen von dem Fernsehdreiteiler „Morenga“ von Egon Günther aus den 1980er-Jahren), musste wir das alles selbst herstellen. Hinzu kommt, dass es bei den Herero zwar traditionelle Kleidung gibt, aber auch europäische Einflüsse, die sie auf eine interessante Art angenommen haben. So hatten Frauen im Dienst von Missionarsgattinnen viktorianische Kleider an, trugen aber ihre eigenen Kopfbedeckungen. Die Männer haben Uniformen der deutschen Armee gespiegelt. Deswegen trägt Friedrich Mahahero eine Uniform der Feldkavallerie. Die Symbiosen, diese Mimikry, die da stattfindet – auch damit muss man sich beschäftigen.

Girley Charlene Jazama als Kezia (© Willem Vrey/STUDIOCANAL GmbH Filmverleih)
Girley Charlene Jazama als Kezia (© Willem Vrey/STUDIOCANAL)

Gleich zu Beginn des Films, bei der Völkerschau in Berlin, trägt Mahahero einen komischen, etwas pompösen Anzug.

Kraume: Das muss man verstehen: Er ist ein Prinz, der Sohn eines Fürsten, der nach Deutschland in dem Glauben kommt, hier Kontakte knüpfen und diplomatische Beziehungen aufbauen zu können. Deshalb trug er seine besten Kleider, seine Maßanzüge. Das war natürlich ein Irrglaube. Die Deutschen wollten, dass die Herero bei den Völkerschauen Leopardenfelle trugen. Doch Friedrich Mahahero wehrte sich dagegen. Die rassistischen Vorurteile jener Zeit wurden in den Menschenzoos bestätigt. Selbst wenn man sich die Bilder der Expressionisten in Dahlem im Brücke-Museum ansieht, stößt man darauf. Auch sie haben nur die Klischees von den Naturvölkern wiedergegeben, so wie sie sich vorstellten, dass sie in Europa zu sehen sein sollten. Das, was sie wirklich gesehen haben, etwa die Vergewaltigung indigener Frauen durch deutsche Soldaten, haben sie nicht gemalt. Stattdessen wurde die Jungfräulichkeit im Bade porträtiert. Diese rassistischen Klischees wurden ständig reproduziert. Deshalb ist es so wichtig, dass Mahahero in dem Anzug auftritt, mit dem er bekleidet war. Man kann auf einem Foto von der Völkerschau im Treptower Park sehen, wie gut alle gekleidet sind.

Die deutsche Hauptfigur Hoffmann ist zu Beginn sehr idealistisch eingestellt. Doch dann arrangiert er sich immer mehr und lädt sogar Schuld auf sich. Für mich ist das eine umgekehrte Éducation sentimentale. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Kraume: Wir nennen das im Drehbuchjargon den „degeneration plot“, also den moralischen Verfall einer Figur. Die taucht im filmischen Erzählen seltener auf – einfach deshalb, weil es Geschichten sind, die uns warnen, dass es uns auch so ergehen könnte. Lässt man sich auf den teuflischen Pakt ein, entwickelt man sich zum Konformisten. Überschreitet man eine moralische Grenze, endet man als amoralischer Mensch. Aber niemand will wie Hoffmann sein. Dieser Mensch, der gestohlen, gelogen, gemordet und Gräber geschändet hat, ist am Ende innerlich tot. Alles Menschliche hat ihn verlassen. Oft enden die Degenerationsgeschichten im Wahnsinn.

Haben Sie dafür noch andere Beispiele?

Kraume:Aguirre, der Zorn Gottes“ ist auch eine Geschichte über Kolonialismus und moralische Degeneration. Die Figur von Klaus Kinski endet im Wahnsinn. Im Hollywoodkino sind zwei gute Beispiele „Capote“ mit Philip Seymour Hoffman als Truman Capote, der über sein großes Buch „Kaltblütig“ moralisch so degeneriert, dass er nie wieder schreiben kann. Oder „Black Swan“, auch eine Geschichte, die im Wahnsinn und im Tod endet. Das wird deshalb nicht so oft gemacht, weil die andere Reise, nämlich wie etwa in „Schindlers Liste“, wo ein böser Mensch zum guten wird, erbauender ist. Wir wollen mit einer Figur lieber mitfühlen, mehr Empathie zeigen, uns für sie verbürgen. Wir wünschen uns am Ende, dass sie sich vom Saulus zum Paulus wandelt. Moralische Degenerationen sind immer härter – und schwerer zu ertragen. Wir wissen als erwachsene Zuschauer allerdings, dass darin auch eine Wahrheit liegt. Ab einem gewissen Alter arrangieren sich Menschen mit den herrschenden Verhältnissen. Das sehen wir auch hier. Hoffmann wohnt allerdings von Anfang an etwas Unheimliches inne. Wenn er Kezias Kopf vermisst, berührt er sie ein bisschen zu lang. Er hört auch nicht auf, als sie so furchtbar weint und sich erniedrigt fühlt. Auch als sie blutet, schreckt er nicht davor zurück, seine Arbeit weiterzumachen. In Wahrheit – und deswegen ist das Ende nur konsequent – ist er von persönlichem Ehrgeiz getrieben. Er will in der akademischen Welt erfolgreich sein. Wichtiger als die wissenschaftliche Wahrheit ist ihm sein persönliches Fortkommen. Er schändet sogar Gräber, obwohl er weiß, dass die Ahnen das Heiligste in dieser Kultur sind.

(© Julia Terjung/STUDIOCANAL GmbH Filmverleih)
Leonard Scheicher als Alexander Hoffmann (© Julia Terjung/STUDIOCANAL)

Interessant ist auch der Aspekt, dass die Wissenschaftler den Kolonial-Soldaten folgen und sich von ihnen beschützen lassen.

Kraume: Das sind Pakte, die überall eingegangen wurden, weil die Akademiker relativ hilflos waren. Sie haben immer mit den Schutztruppen kollaboriert.

Die Kirche kommt auch nicht so gut weg, wie eine kurze Szene zeigt.

Kraume: Die Kirche hat ihren Teil zur Zerstörung der Kulturen auf der Welt beigetragen, überall. Im Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte, der wirtschaftlichen, der politischen, der religiösen, der wissenschaftlichen. Alle hatten ihr Sendungsbewusstsein, alle haben von den schwächeren Kulturen genommen, was sie haben wollten. Die Zwangsarbeiter, den Glauben, die Kunst, bis hin zu den Köpfen.

Ich würde gerne über die Gewalt im Film sprechen. Ich fand sie sehr zurückgenommen. Es gibt zwar einige Gefechte, aber manchmal sehen wir nur die Folgen. Dann liegen viele Tote im Schlamm. Wenn Tausende Herero in die Wüste getrieben werden, wo sie verdursten, zeigen Sie das von ganz hoch oben. Wie haben Sie das konzipiert?

Kraume: Ich wollte nicht, dass der Film die Täterperspektive verlässt. Es wäre ja denkbar gewesen, dass man zwei Lebenswege – den von Hoffmann und den von Kezia – parallel erzählt, bis sie sich am Ende wieder begegnen. Dann hätte man mit Kezia auch die Flucht durch die Wüste machen müssen, bis sie am Schluss in diesem Konzentrationslager in Shark Island landet. Das wäre zwar im Sinne einer Teilung der Verantwortung an dieser Erzählung richtig gewesen. Es hätte aber bedeutet, dass wir einen Film machen, der unerträglich hart geworden wäre. Was aber bedeutet das, wenn 80.000 Menschen durch die Wüste fliehen – ohne Wasser? Die trinken das Blut ihrer Ziegen. Die lassen ihre Babys zurück, weil sie sie nicht mehr tragen können. Ich will das gar nicht weiter ausmalen. Aber man kann sich vorstellen, dass die Bilder, die man drehen muss, schrecklich sind. Dann schlägt im Kino das zu, was ich nicht haben will: die Ausbeutung des Horrors. Es geht natürlich nicht ohne Gewalt, aber es gibt höchstens fünf wirklich brutale Szenen. Die Kopfvermessung ist hart, die Vertreibung in die Wüste und das Ende im Lager. Es gibt aber keine Szenen, bei denen man Gefahr läuft, auf den falschen Abzweig eines Abenteuer- oder Kriegsfilms abzubiegen.

Die Wissenschaft im Pakt mit dem Kolonialismus (© Willem Vrey/STUDIOCANAL GmbH Filmverleih)
Die Wissenschaft im Pakt mit dem Kolonialismus (© Willem Vrey/STUDIOCANAL)

Sie haben in Cinemascope gedreht, die Landschaftsaufnahmen sind atemberaubend. Wie haben Sie das mit dem Kameramann besprochen?

Kraume: Wir haben viel diskutiert. Wir haben lange überlegt, ob wir den Film in 4:3 und Schwarz-weiß drehen und dabei nicht schwenken, um ihn so aussehen zu lassen, als wäre er aus dieser Zeit, bis hin zu dem etwas konventionelleren Cinemascope. Wir hatten das Gefühl: Wenn wir uns jetzt etwas Spektakuläres ausdenken, stellt uns das als Filmemacher zu sehr in den Vordergrund. Der Film wird in der Rezeption gar nicht so sehr als Filmkunst besprochen, sondern vor allem über das Thema diskutiert. Wenn man es ernst meint, wenn man über die Sache reden will, ist das vielleicht auch der richtige Ansatz. Cinemascope ist ein Zugeständnis an ein konventionelles Kinoerlebnis. Ich will, dass diesen Film möglichst viele sehen, nicht nur eingefleischte Arthouse-Fans, sondern ein möglichst breites Publikum. Das ist immer dieselbe Entscheidung. Wir haben über 4:3 und Schwarz-weiß schon bei „Fritz Bauer“ nachgedacht und auch bei „Das schweigende Klassenzimmer“. Doch immer wieder landeten wir bei Farbe und Scope. Wir machen die Filme auch so, dass sie dicht und spannend sind, diese Geschichte aber trotzdem möglichst ehrlich erzählen.

Wo Sie gerade Ihre anderen Filme erwähnen: Welchen Platz hat „Der vermessene Mensch“ in Ihrer eigenen Filmografie? Da gibt es ja doch einen roten Faden.

Kraume: Die letzten acht Jahre habe ich mich nur mit deutscher Geschichte beschäftigt. Die Serie über das Bauhaus, „Die neue Zeit“, zählt auch dazu. Mir macht das Spaß, aber es gibt noch ein paar andere Themen, die ich auch gerne machen würde. Ich habe keine Lust, nur noch deutsche Geschichte zu verfilmen.

Wie haben Sie den Hauptdarsteller Leonard Scheicher ausgewählt?

Kraume: Er spielt die Hauptrolle im „Schweigenden Klassenzimmer“. So eine amoralische Figur wie Alexander Hoffmann und so ein heikles Thema wie Kolonialismus und Rassismus sind dann gut aufgehoben, wenn Regisseur und Hauptdarsteller schon Erfahrungen miteinander gesammelt haben und sich vertrauen. Scheicher ist eine Superbesetzung. Diesen jungen Wissenschaftler, der naiv ist und voller romantischer Ideale und der mutig in die Welt blickt, bis ihn der Mut verlässt und er am Schluss nicht einmal mehr in den Spiegel schauen kann – das macht er ganz toll. Leo ist sehr glaubwürdig und verschwindet total in dieser Rolle.

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