Die Schriftstellerin Esther Kinsky erzählt in ihrem Buch „Weiter Sehen“ von ihrem Plan, ein altes, stillgelegtes Kino in einer ungarischen Kleinstadt wiederzubeleben und erneut Filme auf der großen Leinwand zu zeigen. In dem Romanessay reflektiert sie über die Kunst des Sehenlernens, die getrennte und doch gemeinschaftliche Erfahrung horizonterweiternder Bilder und die Rolle des Kinos als bedrohter Kulturort. Ein Gespräch über das Buch und die große Passion einer Kinogängerin.
In Ihrem literarischen Essay „Weiter Sehen“ widmen Sie sich im weitesten Sinne der Kinokultur, die sich im Augenblick stark verändert. Konkret geht es um die Wiederbelebung eines geschlossenen Kinos in einer kleinen ungarischen Provinzstadt. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Esther Kinsky: Tatsächlich handelt es sich bei meinem Buch um eine authentische Geschichte. Ich hatte das Bedürfnis, darüber zu schreiben, weil ich eine große Kinoliebhaberin bin. Filme sehe ich ausschließlich im Kino, niemals zuhause auf dem Fernseher. Im Moment lebe ich die meiste Zeit in Wien. Dort haben wir großes Glück, was die Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit des Kinos angeht. Das ist aber nicht überall so. Wir erleben aktuell einen Verlust des öffentlichen Raums und eine enorme Privatisierung des Lebens, die auch die Kinokultur betrifft. Denn in ihr gibt es die Möglichkeit der gemeinsamen Erfahrung, ohne dass man seine Anonymität aufgeben muss.
Die gemeinsame Erfahrung des Filmesehens weicht beim Streaming der vereinzelten Betrachtungsform. Was geht aus Ihrer Perspektive dabei verloren?
Kinsky: Der
öffentliche Raum ist etwas, das nicht nur öffentlich, sondern auch offen ist. Er bietet Möglichkeiten zum Austausch, und sei es auch nur
im Blick. Er ist auch weniger kontrollierbar als der digital durchdrungene
private Raum. Es beschäftigt mich
sehr, dass Menschen, die früher oft ins Kino gegangen sind, heute dem Streaming
von Kinofilmen den Vorzug geben. Und sich im Privaten dabei auch den
Kontrollmöglichkeiten dieser Unternehmen aussetzen. Der öffentliche Raum als
Potenzial geht darüber verloren.
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Ihre Erzählung führt den Leser an einen Ort, an dem sich die Frage nach dem öffentlichen Raum und vor allem dem des Kinos in besonderer Weise stellt. Die kleine Stadt im Südosten von Ungarn ist von einem unendlich anmutenden Horizont geprägt, einer gewissen Leere, könnte man sagen. War das auch für Sie ein Anlass, um Fragen der Bildtheorie nachzugehen?
Kinsky: Ja, ich hatte das Bedürfnis, mit dieser Geschichte und den Bildern von diesem leeren Raum etwas anzuregen. In dem Ort gibt es eine Kluft zwischen der glücklichen Vergangenheit, in der auch das Kino lebendig war, und einer Gegenwart, die der Wiederherstellung eines Kinos als Ort der gemeinsamen Erfahrung nicht gewachsen ist. Weil die Bewohner meinen, sie müssten modern werden. In dieser Modernitätsvorstellung, oder besser gesagt der „Fortschrittsvorstellung“ – mit Walter Benjamin im Hinterkopf –, hat das Kino keinen Platz.
Die Frage „Wohin mit dem Blick?“ ist für Ihre Geschichte wesentlich. Was macht die Kategorie für Sie so wesentlich? Und welche Rolle nimmt der Blick in Ihrer Erzählung ein?
Kinsky: Die Frage nach dem Blick stellt sich für mich ganz wesentlich mit der Frage, worauf er sich richtet, und auch mit der Möglichkeit, sich auf Gesehenes tatsächlich zu konzentrieren. Heute erleben wir geradezu eine Überschwemmung mit Bildern, die aber alle funktional sind und auf eine bestimmte Art und Weise appellieren sollen. Die endgültige Reduktion erfolgt dann durch die Emojis auf dem Smartphone, die immer weiter das Bild und die Namen für das Bild verdrängen. Was mich an diesen Darstellungen stört, ist die Vorgeformtheit dieser Bilder. Alles ist reduziert auf einen Minimalkonsens der Mitteilung. Das Visuelle wirkt in unserem Alltag oft unglaublich dirigiert und eben völlig funktional. Aber der Blick muss sich einlassen und auch vom Zweckdenken lösen können, um wirklich zu sehen.
Sie betonen in „Weiter Sehen“ auch das „Wie“ des Sehens im Unterschied zum bloßen „Was“.
Kinsky: Mir ist es wichtig zu betonen, dass der Film als visuelles Medium etwas macht, das andere Medien nicht können, und dass man sich auf der Leinwand, im Kino dem anders überlassen kann als im privaten Bereich. Wenn Filme allzu narrativ arbeiten und wie eine Erzählung lediglich die Handlung abbilden, interessiert mich ein solcher Film nicht. Es muss eine Bildsprache im Film sein, die unabhängig von Handlung und Worten ihren Eindruck hinterlässt und den Blick prägt. Das Bild muss für sich sprechen, aber man muss auch lernen, dies zu sehen. Das erfordert das Erlernen von Distanz zu der Fixierung auf die Funktion der Bilder, mit denen man tagtäglich überflutet wird. Man nimmt Botschaften wahr, aber nicht mehr das Bild. Das manipuliert den Blick. Man muss in bestimmten Kontexten wegschauen lernen, um im Film hinsehen zu können.
Können Sie beschreiben, warum für Sie der Ort Kino so entscheidend für das „Wie“ des Blickes ist?
Kinsky: Das Kino hat unsere Sehgewohnheiten verändert wie
kein anderer Ort. Es war stets ein Platz, an dem man zusammenkam, um einen
anderen Horizont zu erfahren, als man ihn außerhalb des Kinos gewohnt war.
Darum geht es mir, wenn ich von dem Bedürfnis und der Auseinandersetzung mit
dem „Weiter Sehen“ spreche. Ich meine damit die optischen Möglichkeiten, die
Tiefe, Weite und Dreidimensionalität ermöglichen. Seit dem 18. Jahrhundert
beschäftigen sich Menschen damit, bewegte Bilder zu erzeugen, es war wie eine
vage, sich immer weiter konkretisierende Sehnsucht nach der Art des Sehens, die
sich im Kino erfüllte. Horizonterweiternde Bilder, die, wohlgemerkt, für alle
erschwinglich waren. Meine Urgroßeltern etwa saßen bereits auf den Holzbänken
irgendwelcher Wanderkinos, und für meine Großeltern und Eltern war es eine ganz
alltägliche, wichtige Erfahrung, die aber keinen Luxus darstellte. Es gehörte
zum Leben, auch der ärmeren Leute.
Den Erfahrungshorizont der Menschen vermochten grundsätzlich auch andere Bildmedien entscheidend zu erweitern, oder sehen Sie diese Potenziale beim Fernsehen und dem Streaming nicht?
Kinsky: Ich bin nicht gegen das Fernsehen und das Streaming an sich, obwohl mich beim letzteren doch sehr diese Kontrollierbarkeit stört und auch diese unheimliche Unkörperlichkeit der Vermittlung. Aber ich möchte mich nicht pauschal gegen ein Medium äußern, sicher hat ein jedes auch Vorteile. Ich will ja nichts diktieren, nur zum Nachdenken anregen. Ich stehe gerade unter dem Eindruck einer Claude-Sautet-Retrospektive, die ich im Kino sehen konnte. Sautet war für meine Generation ein wichtiger Regisseur, der die in meiner Kindheit und Jugend sehr präsente westdeutsche Frankreichleidenschaft nährte und auffing. Doch die meisten Bekannten sehen diese Filme am Bildschirm zu Hause, auf DVD und würden sich nicht ins Kino bemühen, obwohl das der Ort ist, wo sie die Filme früher erlebten. Die Vorstellung, man könne das genauso gut zuhause machen, ist für mich die Verlagerung vom „Wie“ zum „Was“. Man sieht auf dem kleinen Bildschirm nur noch das „Was“ des Films, es ist tatsächlich aber nur die Schaffung einer Bildfolge, die vielleicht Jugendsehnsüchte kurz wiedererwecken kann, aber doch schnell verblasst. Vielleicht merken viele nicht mal, dass diese Flachheit, die dann eintritt, etwas mit Ort und Medium zu tun hat.
In Ihrem Buch „Weiter Sehen“ beschließen Sie angesichts eines stillgelegten Kinos, den Saal wiederzubeleben und in der Kleinstadt zum ersten Mal seit Jahren wieder Filme auf der großen Leinwand zur Aufführung zu bringen. Ein kühnes Vorhaben angesichts der ökonomischen Realität vieler Häuser.
Kinsky: Mich hat dieser Ort fasziniert. Ich sah dieses Kino und es hat mir das Herz geöffnet. Der Gedanke, es wieder in Betrieb zu nehmen, kam mir ganz schnell, und das hatte sicher auch mit dem Ort, mit der Landschaft zu tun, wo vier Fünftel des Blickes vom Himmel eingenommen werden. Diese scheinbare Undramatik der Landschaft, die Leere lässt sich mit vielen Vorstellungen füllen und ist wie prädestiniert für Gedanken an und über Film und das Kino. In der Leere einer flachen, weiten Landschaft bekommen die Dinge alle eine ähnliche Gültigkeit wie auf der Leinwand, es gibt nicht die Hierarchie, die eine konventionell schöne oder mit allerhand Dramatik möblierte Landschaft bietet. Da ist immer diese Weite und scheinbare Leere, die aber nie öde ist. Man sieht die Dinge besser in dieser Art landschaftlicher Leere. Für mich als Schreibende eröffnet das einen riesigen Raum für das Beschreiben. Als ich in dieser Umgebung das Kino sah, wurde bald der Wunsch wach, es wieder in Betrieb zu nehmen, es war viel konkreter vorstellbar als an einem anderen Ort.
Die Kinopraxis im Ort erweist sich schließlich als schwierig. Die Zuschauer bleiben im wiedereröffneten Saal aus. Und dennoch ist Ihr Buch eine hoffnungsvolle Erzählung, die das Mystische des Kinosaals beschwört. Worin besteht die besondere Magie dieses Raums und seine Wichtigkeit bis heute?
Kinsky: Es heißt immer, dass es kein Zurück gibt, was die
Kinos betrifft. Ich bin auch gegen jede Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit.
Aber es kann und muss vorwärts gehen. Was mich hoffnungsvoll stimmt, sind
Projekte wie in Österreich, wo ein Netzwerk aus Kinos – vor allem natürlich in
Wien – beschlossen hat, eine Monatskarte einzuführen, mit der man so oft man
will ins Kino kann. Wenn ich in der Stadt bin, gehe ich fast jeden Tag ins
Kino. Ich finde es dabei immer wieder bewegend, dass nach dem Film jeder mit
seiner eigenen Erfahrung nachhause geht und verarbeitet, dass man sich aber
trotzdem darauf einigen kann, was man gesehen hat. Es gibt diese Gemeinschaft
der Unverbindlichkeit, die aber doch durch etwas verbunden ist. Man verbringt
Zeit zusammen, tritt aber auch in den ganz eigenen Zeitablauf des Films ein.
Dieser andere, vom Film bestimmte Zeitablauf ist ein wesentliches Merkmal des
Kinoraums – und ein entscheidender Unterschied zum privaten Raum außerhalb. Die
Freiheit besteht ja nicht in der Möglichkeit, sich ein- und auszuschalten,
sondern darin, sich für die Dauer eines Films diesem anderen Zeitablauf zu
überlassen und etwa nicht aufs Telefon zu schauen. Sich-Einlassen ist immer die
größere Freiheit, das gilt für alles im Leben.
Ist das Sehen und Weitersehen, von dem Sie schreiben, ein Prozess, der frühzeitig erlernt, gar vermittelt werden müsste?
Kinsky: Absolut, das wäre für mich ein ganz wichtiges Anliegen, dass Kinder lernen, dass ein Film eine geschlossene visuelle Einheit ist, die man erfährt und die man nicht per Knopfdruck unterbrechen sollte, wie es einem gefällt. Im Theater haben wir diese Möglichkeit ja auch nicht. Das meine ich übrigens auch mit der eingangs angesprochenen Privatisierung. Man redet den Zuschauern heute ein, aus welchen Gründen auch immer, dass es ein Vorzug ist, dass man die Herrschaft hat über den Ablauf dieser visuellen Prozesse. Dabei sind Filme Kunstwerke, die man respektieren lernen sollte, weil sie einen Zusammenhang haben, der nicht unterbrochen werden sollte. Sich dem Bildprozess auszusetzen und ihn zu respektieren, ist auch ein Lernprozess. Die Idee, per Knopfdruck die Kontrolle über das Gesehene zu haben, ist mir zu sehr vom Konsumenten her gedacht, der sich das allerdings auch einreden lässt. Diese Vorstellung von Beliebigkeit wird als Freiheit verkauft und sie macht den Blick nur enger, nicht weiter.
Literaturhinweis
Esther Kinsky: Weiter Sehen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 200 S., 24 Euro. Als E-Buch 20,99 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.