© Sverre Soerdal ("Unruly")

Fritz-Gerlich-Preis 2023 für „Unruly“ von Malou Reymann

Die Jury-Begründung für den Fritz-Gerlich-Preis im Wortlaut

Veröffentlicht am
14. August 2023
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Beim 40. Filmfest München ist am Mittwoch, 28. Juni 2023, zum elften Mal der Fritz-Gerlich-Preis verliehen worden. Mit dem Filmpreis im Gedenken an den katholischen Journalisten und Nazi-Gegner Fritz Gerlich (1883-1934) wurde das dänische Historiendrama „Unruly“ ausgezeichnet. Regisseurin Malou Reymann greift darin den unseligen Umgang mit nonkonformen Frauen in den 1930er-Jahren auf, die zwangsweise in eine Anstalt für „geistig Behinderte“ verfrachtet wurden. Die Begründung der Jury im Wortlaut.


"Der Film „Unruly“ scheint uns in eine schon weiter zurückliegende Vergangenheit zu führen, in der junge Frauen, die aus der Sicht der Gesellschaft in irgendeiner Weise nicht angepasst waren, in den 1930er-Jahren zwangsweise auf eine dänische Insel gebracht wurden, um dort zu lernen, sich anzupassen. Dieser Zugriff des Systems auf die Frauen macht dabei aber noch nicht halt, sondern geht schließlich bis zur Zwangssterilisation, um zu verhindern, dass diese Frauen ihr Leben, ihre Gene weitergeben. Was zunächst wie ein Blick in eine fernere Vergangenheit erscheint, erweist sich als hochaktuell: Die Einrichtung, in der dieser Film spielt, wurde erst in den 60er-Jahren geschlossen, noch bis vor wenigen Jahren wurden in verschiedenen europäischen Ländern Zwangssterilisationen an behinderten Menschen „legal“ durchgeführt.

„Unruly“ führt eindringlich vor Augen, wohin ein Menschenbild führt, das ausschließlich auf Optimierung und technische Machbarkeit fokussiert ist. An diesem sehr eindringlich inszenierten Beispiel lassen sich auch Fragen unserer Zeit reflektieren: Was dient dem Menschen wirklich? Wie gehen wir mit Menschen um, die außerhalb einer Norm sind? Wie können Menschenrechte im Zeitalter von KI und starken technizistischen Strömungen geschützt werden? Die Erinnerung, die dieses starke Film-Drama vor Augen führt, schafft ein Bewusstsein für unsere heutige Zeit.

„Unruly“ überzeugt mit eindrucksvoller Bildgestaltung, starker Fokussierung auf die Insel als zentralem Ort der Handlung, auf den Punkt reduzierten Dialogen und zwei Hauptprotagonistinnen (Sørine und Maren), die uns in sehr authentischer Weise erleben lassen, wie Menschen in einem solchen totalitären System der Unterdrückung reagieren können – durch Anpassung oder Protest. „Unruly“ zeigt, wie stark die Kräfte eines solchen Systems sind, das auch die Opfer selbst benutzt, um sich zu stabilisieren, das Protest gnadenlos unterdrückt bis zur Vernichtung des Menschen. „Unruly“ zeigt aber auch, dass es Hoffnung geben kann, dass Menschen selbst in einem solchen System die Kraft finden können, für ihr großes Ziel unendlich viel auf sich zu nehmen. Wenn am Ende Sørine nach vielen Jahren ihre Tochter Ellen wiedersieht und mit ihr vorsichtig in ein neues gemeinsames Leben geht, sind die Spuren der Gewalt des Systems nicht getilgt, den unzähligen Opfern ist damit noch keine Gerechtigkeit widerfahren. Es ist der Film selbst, der ihnen ein Denkmal setzt, der durch die Erinnerung warnt und mahnt. Er ist geradezu ein Appell, Dinge niemals hinzunehmen, wenn der eigene Gerechtigkeitssinn dies verlangt. Auch wurden Fragen der Moral behandelt, der sexuellen Befreiung der Frauen, die ihnen lange verwehrt war. Auch das findet sich noch heute in der Mitte unserer Gesellschaft.

All das macht diesen Film aus Sicht der Jury zu einem würdigen Träger des Fritz-Gerlich-Filmpreises 2023."

Mitglieder der Jury waren 2023 Katharina Bischof, Alexander Bothe, Sandra Krump, Claudia Luzius und Lars Wiebe.

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