© O. Malzahn/Nordische Filmtage Lübeck (Foto von der Eröffnung der Nordischen Filmtage Lübeck 2023)

Hurra, wir leben noch!

Finanznöte, Strategiekonflikte, Programmformate: Wohin steuern die Filmfestivals?

Veröffentlicht am
10. Dezember 2023
Diskussion

Die Corona-Pandemie brachte auch für Filmfestivals herbe Beschränkungen mit sich. Dennoch gelang es den meisten, die Pandemie zu überstehen, nicht zuletzt dank kluger Strategien, durch die Filmfeste ganz oder teilweise in den virtuellen Bereich verlagert wurden. Doch erst nach dem Ende der Pandemie offenbarte sich, wie es um die deutschen Festivals tatsächlich bestellt ist. Ein Überblick über den Stand der Filmfestivals im Herbst 2023.


Als 2020 die Corona-Pandemie ausbrach und die Lockdowns der deutschen Kinos auch die Filmfestivals zeitweise um ihre Spielstätten und Besucher beraubten, machten sich in der Festivalszene Sorgen breit. Können die Festivals solche Stillstände überleben? Wie können sie künftig noch Filme zu ihrem Publikum bringen? Doch sie ließen sich nicht entmutigen. Binnen weniger Wochen erfanden sich die ersten Filmschauen im Internet quasi neu und fanden rasch Nachahmer. Nicht wenige von ihnen haben die Chance der Corona-Krise genutzt, um Programme zu renovieren, alternative Formate auszuprobieren, Online-Angebote zu entwickeln und neue strategische Konzepte zu generieren. Aus heutiger Sicht haben sich die damaligen Existenzängste kaum bewahrheitet. Die weitaus meisten Festivals haben die schwere Krise überstanden. Doch wie geht es nun weiter? Und welche Rolle spielen dabei die Streaming-Angebote?

Nachdem die deutsche Filmfestivallandschaft über etliche Jahre kontinuierlich und teilweise zweistellig expandierte, sorgte die COVID-19-Pandemie für eine empfindliche Wachstumsdelle. Zwischen 2021 und 2022 ging die Zahl der Festivals um 56 auf 412 zurück, was einem Minus von etwa zehn Prozent entspricht. Diese Zahlen lassen sich aus dem Filmstatistischen Jahrbuch 2023 der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) erheben.

Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Verluste regional ganz unterschiedlich verteilen. Die größten Einbußen musste Baden-Württemberg verkraften. Dort sank die Zahl der Festivals zwischen 2021 und 2022 um neun auf 43. Einen starken Rückgang verzeichnet auch Thüringen, wo in diesem Zeitraum fünf Festivals aufgaben und elf übrigblieben. Dagegen bleiben die Zahlen in Hamburg (16) und Hessen (39) gleich und in Bayern (minus 1 auf 88) und Sachsen (minus 1 auf 22) fast stabil. In den traditionell weniger filmaffinen Ländern Bremen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz kamen insgesamt sogar vier Festivals hinzu. Trotz der Neugründungen erreichte deren Niveau aber 2022 laut SPIO bei weitem nicht die Zuwachsraten der dynamischen 2010er-Jahre.


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Nach wie vor lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Bedeutung eines Bundeslandes als Medienstandort mit dessen Filmfestivaldichte erkennen. Dabei erwiesen sich 2022 der Stadtstaat Berlin mit 77 Festivals und der Flächenstaat Bayern mit 88 Festivals als Hochburgen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 54 und Baden-Württemberg mit 52 Festivals. In ihrem Jahrbuch konstatiert die SPIO weiter: „Der Filmfestivalsektor trägt heute maßgeblich zur filmkulturellen Vielfalt in städtischen und mancherorts auch zu einer Kino-Grundversorgung in ländlichen Räumen bei.“

Auch die Berlinale steht vor finanziellen Einschränkungen (© Alex Janetzko/Berlinale)
Auch die Berlinale steht vor finanziellen Einschränkungen (© Alex Janetzko/Berlinale)

Wie sind Filmfestivals durch die Corona-Krise gekommen?

Angesichts der Corona-Pandemie haben viele Festivals eigene Streaming-Angebote auf die Beine gestellt, sei es als Alternative oder als Ergänzung zum herkömmlichen physischen Filmangebot in den Kinos. Dabei variierte die Resonanz erheblich. Das Jahrbuch resümiert: „Neue physische, virtuelle und duale Festivalangebote wurden auch in 2022 weiterentwickelt und rund 50 Filmfestivals verstehen sich derzeit als duale Programmangebote.“

„Die Filmfestivals sind erstaunlich gut durch die Corona-Krise gekommen“, bilanziert die Medienökonomin und Filmfestival-Forscherin Tanja C. Krainhöfer. „Als die Kinos bei den Lockdowns die Türen zugesperrt haben, haben die Filmfestivals in kürzester Zeit alternative Programmangebote entwickelt. Über knapp zwei Jahre hinweg haben sie während der langen Phasen der Kinoschließungen eine filmkulturelle Grundversorgung geleistet. Insbesondere dadurch, dass viele von ihnen das Festival in den virtuellen Raum transferierten, haben sie bundesweit Zugänge zu Filmkultur ermöglicht.“

Verdienstvoll sei auch gewesen, dass die Festivals den Communitys unterschiedlicher Hintergründe, Generationen oder thematischer Interessen geholfen hätten, in diesen Zeiten virtuelle Begegnungsräume zu schaffen. „Darüber hinaus haben sie auch die Filmbranche am Laufen gehalten, sei es mit diskursiven Formaten zu Perspektiven und Zugängen, aber vor allem mit Filmvorführungen. Ich erinnere an die sogenannten ‚Frozen Pictures‘, die gerade noch wie ‚First Cow‘ von Kelly Reichardt auf der „Berlinale“ ihre Weltpremiere gefeiert hatten. Während der Kinoschließungen blieben sie in einer Art Solidaritätsprinzip durch Filmfestivals über Monate sichtbar.“

Als einen „Glücksfall“ betrachtet Krainhöfer, dass in Deutschland im Sommer 2019, also kurz vor der Pandemie, die AG Filmfestival gegründet wurde, der nun etwa 120 Festivals angehören. „Damit wurde eine Struktur für Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch geschaffen, die es gerade auch kleinen Festivals ermöglichte, an all den Erkenntnissen, Versuchen und Laborerfahrungen zu partizipieren. So konnten neue Formate und Abspielformen von Pop-up-Autokinos bis zu ‚VR Hubs‘, Podcasts und Zoom-Debatten entwickelt und erprobt werden. Und es gelang dem gesamten Sektor so, sich erheblich zu professionalisieren.“

Die Eröffnung des 44. Filmfestivals Max Ophüls Preis (© Oliver Dietze/Festival Max Ophüls Preis)
Die Eröffnung des 44. Filmfestivals Max Ophüls Preis (© Oliver Dietze/Festival Max Ophüls Preis)

Wie geht es den Filmfestivals aktuell?

Auf die Frage, wie es den Festival aktuell geht, sagt Krainhöfer: „Mein Eindruck ist, dass es ihnen weitgehend ganz gut geht. Wie bei den Kinos schneiden manche besser ab, andere schlechter. 2022 hat beispielsweise das Fünf-Seen-Festival in Bayern sein 15-jähriges Jubiläum gefeiert und ein Rekordergebnis erzielt. Andere haben 2022 die Besucherzahlen von 2019 noch nicht erreicht.“ Das sei durch viele Effekte bedingt, erläutert die Festivalforscherin, die das Portal www.filmfestival-studien.de betreibt. Ein wichtiger Faktor dabei: „Nach der Pandemie haben viele Menschen ihre zurückgestellten Reisen wahrgenommen, verschobene Konzerte besucht oder abgesagte Kurse nachgeholt. Es gab 2022 mit Sicherheit ein Überangebot an Freizeitangeboten. Das spürten auch die Festivals.“

Dagegen zeichnet die AG Filmfestival angesichts neuer schwieriger Herausforderungen wie der Inflation ein anderes Bild. Im Juli 2023 beurteilt die AG die „aktuelle Lage aller deutschen Filmfestivals, unabhängig von ihrer Größe, dramatisch: Seit Ende der Pandemie sind Kostensteigerungen von im Durchschnitt 30 bis 50 Prozent unvermeidlich.“ Umso dringlicher fordert sie eine effektivere Filmfestivalförderung, die in der anstehenden Novelle des Filmförderungsgesetzes zu verankern sei.

Im Zuge der Pandemie wurden erwartungsgemäß einige Festivals stillgelegt. Betroffen waren jedoch in erster Linie jüngere und junge Filmschauen, deren Organisatoren zu wenig Erfahrung hatten und zu wenig vernetzt waren. „Kaum ein Festival, das älter als zehn Jahre ist, hat die Krise nicht überstanden“, analysiert Krainhöfer. „Alter, Netzwerke, Kompetenzen, regionale Verwurzelung und Krisenerfahrung erwiesen sich als Erfolgsgaranten.“

Ungeachtet einiger Verluste unter den Festivals in den Jahren 2021 und 2022 scheint die Finanzierung nach Krainhöfers Recherchen zumindest stabil. „Viele Kulturämter und Verwaltungen haben die Bedeutung und die Qualität der Festivals erkannt. Es gibt auch Kommunen, die gezielt Sonderförderungen gewährt haben, um die Preissteigerungen und die erhöhten Energie- und Personalkosten auszugleichen.“ Damit wachse allerdings in den kommenden Jahren der Konsolidierungsdruck – wie selbst bei der „Berlinale“ zu sehen war.

Persönlicher Kontakt wie beim „Spielkino“ der Nordischen Filmtage Lübeck ist weiterhin wichtig (© Christine Rudolf/Nordische Filmtage Lübeck)
Persönlicher Kontakt wie beim „Spielkino“ der Nordischen Filmtage Lübeck (© Christine Rudolf/Nordische Filmtage Lübeck)

Am Beispiel von vier Filmfestivals unterschiedlicher Sparten lässt sich erkennen, wie diese die Corona-Pandemie überstanden haben und welchen Stellenwert sie Online-Screenings für die Publikumsgewinnung zumessen.


Streaming hat sich in Lübeck bewährt

Susanne Kasimir kann als Geschäftsführerin der Nordischen Filmtage Lübeck Positives berichten: „Die Nordischen Filmtage waren dank ihrer besonderen Position als integraler Bestandteil der Hansestadt Lübeck in ökonomischer Hinsicht zu keinem Zeitpunkt ernsthaft bedroht. Die gerade zu Ende gegangene Jubiläumsausgabe hat 30.000 Besuche verzeichnet, das sind fast so viele wie das Rekordergebnis von 2019.“

Lübeck hat Online-Filmvorführungen im November 2020 eingeführt. „Zum Glück waren wir auf den erneuten Kino-Lockdown gut vorbereitet und konnten fast das gesamte Programm auf der Festivalplattform zum Streaming anbieten“, erklärt Kasimir. „Das Ergebnis war sagenhaft. Unter Zugrundelegung von durchschnittlich zwei Personen am Bildschirm pro gestreamten Film waren das annähernd so viel Zuschauende wie 2019.“

In diesem Jahr offerierten die Nordischen Filmtage knapp die Hälfe der mehr als 180 Filme und Serien-Episoden online. Während fast 25.000 Menschen Kinotickets erwarben, wurden 6.500 digitale Sichtungen über die eigene VOD-Plattform registriert, wobei diesen Zahlen jeweils zwei Personen am Bildschirm pro gestreamtem Film zugrunde gelegt wurden. Allerdings gibt der künstlerische Leiter Thomas Hailer zu bedenken: „Unser Hauptaugenmerk war zu jedem Zeitpunkt das physische Festivalerlebnis in den Kinos und Spielstätten der Stadt – mit Begegnungen, dem gemeinsamen Leinwanderlebnis und Austausch.“

Lübeck hält an den Online-Screenings nicht zuletzt deshalb fest, weil „damit die Teilhabe für Menschen gesichert ist, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind“, wie Kasimir erläutert. „Zudem können wir so mit vielen Fans, die nicht jedes Jahr nach Lübeck kommen, in Kontakt bleiben. Und unser Fachpublikum findet es sowieso toll, mehr Filme sehen zu können, das hat schon so manchem Film am Ende den Weg ins Kino ermöglicht.“

Für Hailer ist das Festival „gut aufgestellt für die Zukunft“. Mit dem Fokus auf den nordischen und baltischen Filmen hätten die Nordischen Filmtage einen starken Markenkern und genössen lokal, regional und international hohe Wertschätzung. „Das Programmangebot wächst organisch mit dem erweiterten audiovisuellen Angebot dieser Territorien. So gibt es schon seit Beginn des Siegeszuges der nordischen Serien eine entsprechende Sektion für die Highlights dieses Genres in Lübeck. Unser ,InfinityDome‘ bietet Raum für immersive Medien. Damit reagieren wir auf das steigende Angebot an künstlerisch hochwertigen 360-Grad-Produktionen aus dem Norden.“


Neues Publikum in Bonn

Die Internationalen Stummfilmtage in Bonn konnten die Krise „mit den Corona-Hilfen gleicher Qualität überstehen und neue Wege finden, das Publikum zu erreichen. Gleichzeitig ist aber ein Teil des lokalen Publikums verloren gegangen“. Das teilten die Projektleiterin und Geschäftsführerin des Fördervereins, Sigrid Limprecht, und die Programmkoordinatorin Lisa van den Boom auf Anfrage mit. „Wir haben die Besucher:innenzahlen von vor der Pandemie nicht wieder erreicht, auch weil weiterhin weniger Stühle aufgestellt wurden, um einem dauerhaft veränderten Nähe-Distanz-Gefühl der Gäste gerecht zu werden.“ Mit der Online-Ausgabe des Open-Air-Festivals hätten sich jedoch neue Wege für die Auswertung von Stummfilmen und Musik-Kompositionen eröffnet.

Bonner Stummfilmtage in Corona-Zeiten (© Internationale Stummfilmtage Bonn)
Bonner Stummfilmtage in Corona-Zeiten (© Internationale Stummfilmtage Bonn)

Die Stummfilmtage hatten das Online-Filmangebot im ersten Pandemie-Sommer 2020 eingeführt. Seitdem wird es kontinuierlich fortgeführt und ausgebaut. „Kommunikations- und Werbeangebote werden seit dem letzten ‚pandemiefreien‘ Jahr auf ein internationales Publikum angepasst, denn was ursprünglich als Pandemie-Zusatzangebot entstand, hat sich als eigenes Online-Festival etabliert“, so Limprecht und van den Boom. In diesem Jahr konnten elf Filme teils mit Live-Musikaufnahme nach der jeweiligen Bonner Vorführung für 48 Stunden weltweit und kostenfrei gestreamt werden.

Das Streaming-Programm war dabei zunächst als Ergänzung zu den physischen Filmvorführungen gedacht. „Einige Zusatzangebote wie etwa Artist-Talks oder Podiumsdiskussionen auf Zoom mit internationalen Gästen finden mittlerweile aber ausschließlich online statt, denn es hat sich ein internationales Publikum für das Online-Festival etabliert.“ Die Struktur der Online-Screenings habe sich dabei verändert, so die Festivalorganisatoren. „Nachdem wir in den ersten Jahren vor allem Publikum erreicht haben, das das Festival bereits kannte und statt der Veranstaltungen vor Ort das Online-Angebot genutzt hat, erreichen wir jetzt ein eigenständiges internationales Publikum, das nicht mit dem Publikum vor Ort identisch ist.“

Zu den Aussichten und der Finanzierung der Stummfilmtage sagen Limprecht und van den Boom: „Wir wollen das zusätzliche Online-Festival unbedingt erhalten, weil es ganz neue Publikumsschichten erschlossen hat. Dies stellt uns vor große Herausforderungen, weil es keine Zusatzförderungen mehr gibt und die aktuellen Förderungen nicht darauf eingestellt sind. Ein Angebot hinter der Bezahlschranke wird sich unter keinen Umständen selbst tragen können.“


Saarbrücken noch in der Krise

Das Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken hat die Corona-Pandemie „wie viele andere Kulturveranstaltungen durch Kreativität, einen unbegrenzten Ideen- und Einfallsreichtum, ein grandioses und sehr belastbares Team, das der hohen Arbeitsbelastung standgehalten hat, gut bestanden. Von ‚überstanden‘ kann meiner Meinung nach aber noch nicht die Rede sein. Wir befinden uns aktuell noch in der Krise“, sagte die Festivalleiterin Svenja Böttger. „Die Auswirkungen der Pandemie spüren wir derzeit alle noch immer in Gestalt einer hohen Inflation, enormen Preissteigerungen, Personalmangel oder dem Wegfall von Finanzierungsmöglichkeiten bei gleichzeitig erhöhtem Finanzbedarf. Meiner Einschätzung nach wird dies auch weiterhin anhalten.“ Die nächsten zwei bis drei Jahre werden entscheidend sein, „ob und wie man mit diesem sehr starken gesellschaftlichen Einschnitt zurechtkommt und wie die Kulturinstitution dies überstanden hat.“

Das Leitungsteam des Filmfestival Max Ophüls Preis 2023 (© Oliver Dietze/Festival Max Ophüls Preis)
Das Leitungsteam des 44. Filmfestival Max Ophüls Preis 2023 (© Oliver Dietze/Festival Max Ophüls Preis)

Das Festival hat die 42. Ausgabe im Januar 2021 aufgrund der Corona-Restriktionen als reine Online-Edition veranstaltet, wobei alle Filme im Streaming angeboten wurden, gepaart mit Live-Online-Gesprächen und einer eigenen Online-Sendung. „Seit 2022 findet ein kleines begleitendes Streaming-Programm statt. Das Festival läuft somit dual“, so Böttger.

Das Saarbrücker Festival versucht dabei, die Interessen und Bedürfnisse der Zuschauenden und der Filmschaffenden so gut wie möglich unter einen Hut zu bringen. „Aus Rücksicht auf die zukünftige Verwertung der Filme haben wir bei allen Ausgaben das Streaming-Angebot dahingehend beschränkt, dass Filme in begrenzter Ticketanzahl und mit Geo-Blocking begrenzt auf Deutschland verfügbar waren. Das heißt, dass Filme und Programme durchaus auch ausverkauft waren“, erläutert Böttger. „Außerdem waren die Wettbewerbsfilme im Jahr 2022 erst nach der Premiere im Kino im Stream verfügbar, während die Nebenreihen und Sonderprogramme schon ab Beginn des Festivals online gesichtet werden konnten.“

2023 wurden so 83 von 127 Filmen im Programm gestreamt. Davon entfielen 40 Titel auf die vier Wettbewerbe und 43 auf Nebenreihen und Sonderprogramme. Auch bei der Ausgabe 2024 will Böttger das Prinzip des dualen Filmfestivals beibehalten, um damit eine andere, kleinere Zielgruppe erreichen zu können. Die Online-Screenings bieten „auch Personen, die aus den unterschiedlichsten Gründen –keine Möglichkeit zur Kinderbetreuung, Krankheit oder Mobilitätseinschränkungen – nicht live dabei sein können, die Option, in die Geschichten der Filmtalente einzutauchen.“ Böttger betont aber auch: „Unser Fokus ist und bleibt auf der Präsenz im Kino und dem Festival-Feeling vor Ort, das nicht durch Online-Formate und Aktivitäten ersetzt werden kann. Die DNA eines Filmfestivals ist das gemeinsame Erleben und Besprechen vor Ort im Kino und in der Stadt und lebt von den Begegnungen untereinander.“

Und die Aussichten? „Ich blicke kämpferisch, aber auch hoffnungsfroh in die Zukunft“, betont Böttger. „Wir haben sehr viel gelernt in den letzten vier Jahren seit Ausbruch von Corona. Wir haben uns weiterentwickelt und gekämpft und tolle Partner an unserer Seite, die uns finanziell unter die Arme gegriffen haben. Die nächsten Ausgaben werden kein leichter Weg werden, aber ich bin zuversichtlich, dass das Filmfestival Max Ophüls Preis aus der Krise resilienter und strategisch stärker hervorgehen wird.“


Oberhausen vor einer Transformation

Wie haben die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen die Corona-Krise überstanden? „Hurra, wir leben noch“, sagt der Festivalleiter Lars Henrik Gass. „Die zwei Jahre unter Erlass haben wir gut gemeistert. Erwartungsgemäß kamen die Probleme danach. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir als Filmfestivals an Kinostrukturen hängen, für die in den nächsten Jahren ein weiterer erheblicher Schwund vorausgesagt wird. Das wird strukturelle Folgen für uns alle haben.“

Oberhausen hat die gesamten Festivalausgaben 2020 und 2021 online durchgeführt. „Mit recht beachtlichem Erfolg“, wie Gass erklärt. „2022 hybrid mit mäßigem Erfolg, 2023 sozusagen im Normalbetrieb mit recht passablen Zahlen, aber immer noch unter dem Stand von 2019. Allerdings haben wir Online-Programme beibehalten und planen sogar, diese auszubauen.“

Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen (© Kurzfilmtage Oberhausen/Daniel Gasenzer)
Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen (© Kurzfilmtage Oberhausen/Daniel Gasenzer)

Nach dem Auslaufen der Pandemie hat sich die Struktur der Online-Screenings in Oberhausen verändert. Gass verweist darauf, dass es schwierig sei, „neben den sowieso bereits bestehenden Kulturangeboten auch noch Aufmerksamkeit für Angebote im Netz zu schaffen, von den erheblichen zusätzlichen Kosten ganz zu schweigen. Im Jahr 2023 haben wir ungefähr zwei Festivals gleichzeitig gemacht – das hat uns sehr stark gefordert.“ In diesem Jahr konnte das Publikum laut Gass die Preisträgerfilme 24 Stunden lang anschauen, das Fachpublikum nach dem Festival noch alle Einreichungen – sofern eine Einverständniserklärung vorlag.

Zum Stellenwert der Online-Vorführungen für die Publikumsgewinnung und -bindung führt Gass aus: „Ich muss gestehen, dass ich 2020/21 noch optimistischer war, als ich es heute bin. Ich frage mich, was Menschen überhaupt noch bewegt. Mit Sicherheit genügt es nicht, eine Plattform hinzustellen. Wir betreiben gemeinsam mit fünf weiteren europäischen Kurzfilmfestivals, die sich als European Short Film Network (ESFN) konstituiert haben, die Plattform ‚This is Short!‘.“ Das gleichnamige Streaming-Portal ist ab sofort ganzjährig aktiv. Nur im Verbund mit anderen könne man zu einer kritischen Masse von Filmen gelangen und Aufmerksamkeit erzeugen, fügt Gass hinzu. „Die Entwicklungen gehen gerade so schnell vor sich, dass wir zwar kreativ flexibel damit umgehen können, aber leider nicht strukturell und finanziell.“

Die Aussichten auf längere Sicht beurteilt der langjährige Festivalleiter als schlecht und verweist auf die Inflation, die Einstellung von Förderprogrammen wie etwa die Filmfestivalförderung des Goethe-Instituts und die rasante Veränderung des Freizeitverhaltens der Menschen. Seine Bilanz: „Aus all diesen Gründen denken wir über einen Transformationsprozess für das Festival nach, zu dem wir uns erst im nächsten Jahr öffentlich äußern wollen.“


Online-Screenings etabliert

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Online-Screenings als strukturelles Element von Filmfestivals etabliert haben, auch wenn die große Mehrzahl der Festivals inzwischen zu alleinigen physischen Filmvorführungen zurückgekehrt ist. Mit Streaming-Angeboten können sie die Barrierefreiheit für Filminteressierte mit Handicaps verbessern, bestehende Publikumsbindungen festigen und neue Publikumsschichten erschließen sowie das traditionelle Kinoerlebnis um zusätzliche virtuelle Angebote erweitern. Tanja Krainhöfer erwartet, dass „Filmfestivals mit Online-Sektionen diese auch künftig anbieten und ihre Kompetenzen ausbauen, weshalb sie in wenigen Jahren die Lorbeeren ernten können.“

Mit ihrer Expertise für einzelne Programmsegmente wie zum Beispiel Dokumentarfilm, Nachwuchsfilm, Filmerbe oder bestimmte Filmländer sowie einzelne Communitys können sich die Festivals wahrscheinlich auch gegen die Streaming-Giganten behaupten. Was die generellen Perspektiven anbelangt, so gehen die Filmfestival-Analystin und ihre Kolleg:innen davon aus, dass der Markt dafür weiterwachsen, sich ausdifferenzieren und als parallele Auswertungsstruktur verankern werde. „Auch wenn mancher Branchenvertreter oder der ein oder andere aus der AG Kino - Gilde das noch nicht erkennen kann: Filmfestivals sind längst ein eigenständiges Ökosystem.“

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