© Marc Richter (aus dem Kurzfilm "Schleim des Nichtswissens")

Zwischen „Gaza“ und „Genozid“

Die 70. Kurzfilmtage in Oberhausen reagierten mit einer Tagung und einer Diskussionsreihe auf die Boykottforderungen „pro-palästinensischer“ Aktivisten

Veröffentlicht am
13. Mai 2024
Diskussion

Seit dem Aufruf des Oberhausener Kurzfilmtage-Leiters Lars Henrik Gass, bei einer Solidaritätsdemo für Israel teilzunehmen, stand das Festival unter Dauerbeschuss „pro-palästinensischer“ Aktivisten, die zum Boykott der Jubiläumsausgabe aufriefen. Das 70. Filmfest (1.-6.5.2024) begegnete dem auf seine Weise: mit einer Tagung über das Thema Kultur und Öffentlichkeit und einer prominent besetzten Diskussionsreihe.


Der 7. Oktober 2023 markiert in vielen Punkten einen ähnlichen Wendepunkt wie der 11. September 2001. Das brutale Massaker der Hamas hat nicht nur einen Krieg mit 35 000 Toten in Gaza provoziert, sondern die Welt in einen gefährlichen Abgrund gerissen. Die ganz große militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist bislang wenigstens ausgeblieben, doch dafür brennt es andernorts lichterloh. Bei der UNO und ihren Institutionen, innerhalb von Staaten und Städten, und selbst bei Filmfestivals, die politisch zunehmend instrumentalisiert werden. Wo Filme eben noch kunstvoll die Widersprüche der Wirklichkeit ausbuchstabierten, sind plötzlich Bekenntnisse gefragt. Statt um Nuancen geht es jetzt um knallharte Statements in Schwarz oder Weiß, um Propaganda, entweder für oder gegen, auf jeden Fall aber so und nur so.


Massive Zerwürfnisse, neue Fronten

Die Kurzfilmtage in Oberhausen sind für diese fatale Entwicklung ein gutes Beispiel. Am Anfang stand ein schlichter, emphatischer Facebook-Aufruf, sich an der großen Solidaritätsdemonstration für Israel am 22. Oktober 2023 in Berlin zu beteiligen. Unter Rekurs auf die Demos gegen den russischen Überfall auf die Ukraine bat Festivalleiter Lars Henrik Gass um ein ähnlich starkes Zeichen: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!“ Die Folge dieser Worte aber war ein kulturelles Beben, das bis in die Gegenwart nachhallt. Binnen Tagen formierte sich im Netz ein anonymer Aufruf, der Gass Rassismus unterstellte und seinen Rücktritt verlangte. Ein erklärendes zweites Posting, das Missverständnisse auszuräumen versuchte und für die Kurzfilmtage als Ort des Dialogs und der künstlerischen Auseinandersetzung warb, erzielte kaum Wirkung.

Im Internationalen Wettbewerb in Oberhausen: "Spirited Away" (Siew Ching Ang)
Lief im Internationalen Wettbewerb in Oberhausen: "Spirited Away" (© Siew Ching Ang)

Seither sind sechs brutale Monate vergangen, in denen der Krieg in Gaza weltweit für massive Zerwürfnisse und neue Fronten gesorgt hat. Unter anderem auch in der Kulturszene, in der eine vergiftete Polarisierung um sich greift. In Oberhausen gestalteten sich die Vorbereitungen für das 70. Jubiläumsfestival (1.-6.5.2024) schwierig, da sich das Festival einem massiven Boykott ausgesetzt sah; rund einhundert Filme wurden wieder zurückgezogen, langjährige Beziehungen zwischen Filmemachern, Kuratoren und dem Festival gingen in die Brüche, und im Netz blühte der Gestus der Einschüchterung. Filmschaffende und Journalisten, die auf Facebook ihre Absicht kundtaten, nach Oberhausen zu fahren, wurden unter Druck gesetzt, dies zu unterlassen.

Die Kurzfilmtage reagierten auf diese Vorgänge auf ihre Weise: mit einer Tagung zum Verhältnis von Kultur und Öffentlichkeit und einem ambitionierten Diskussionsprogramm, das mit prominent besetzten Panels die Rolle und Bedeutung von Filmfestivals in Frage stellte. Dabei ging es unter anderem um zwei zentrale Themen: den um sich greifenden Antisemitismus und eine generelle Veränderung in der Bedeutung und Funktion kultureller Foren, die unter dem Druck identitätspolitischer Forderungen zu implodieren drohen.


Keine Courage zur Gegenrede

Die Querelen um die diesjährige Berlinale, deren Abschlussgala von mehreren Filmschaffenden als Bühne für ihre „pro-palästinensischen“ Überzeugungen genutzt wurde, war dabei ein griffiges Beispiel für die Schwierigkeiten im Umgang mit explizitem oder implizitem Antisemitismus. Es hätte in Berlin nicht viel bedurft, um die „Genozid“-Äußerungen als das zu identifizieren, was sie waren: eine bloße politische Meinung, deren Einseitigkeit das Festival nicht teilt und die zudem nichts mit den Filmen und der Filmkunst zu tun hat. Nur weil dies unterblieb und auch im Publikum niemand die Courage zur Gegenrede hatte, bauschten sich die Worte über Nacht zum Skandal auf. Der rief dann auch erwartbar die Politik auf den Plan, die sich nachträglich und parteipolitisch leicht dechiffrierbar wohlfeil in Position brachte. Genau dies aber gefährdet den Raum künstlerischer Freiheit, den kulturellen Plattformen wie Filmfestivals erst eröffnen: „Genauer zu denken und wahrzunehmen, als dies einer Gesellschaft in ihrem Alltag möglich ist“, wie es Lars Henrik Gass formulierte.

NRW-Preisträger: "On Hospitality - Layla al Attar and Hotel al Rasheed" ( Magnus Bärtås/Behzad Khosravi-Noori)
NRW-Preisträger: "On Hospitality - Layla al Attar and Hotel al Rasheed" (© Magnus Bärtås/Behzad Khosravi-Noori)

Komplizierter und schwerer zu greifen ist ein anderes Phänomen, das nicht auf antisemitische Ressentiments beschränkt ist, sondern sich beispielsweise auch am aktuellen Bann gegen russische Filme darlegen lässt: Formen des stillen Boykotts von Kuratoren oder Auswahljurys, die aus unterschiedlichsten Gründen einen Bogen um bestimmte Filme machen. So wies die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg darauf hin, dass bei der Berlinale 2024 insgesamt nur zwei israelische Filme liefen, während es sonst in der Regel rund ein Dutzend waren. Wie man mit solchen schwierigen Lagen besser umgehen kann, demonstrierte aktuell das Studentenfilmfestival „Sehsüchte“, so von Haselberg, bei dem sich das Festival in einer öffentlichen Debatte dazu durchgerungen hatte, drei russische Filme zu zeigen.


50/50 und Cannes

Das zweite große Thema handelte mehr von Grundsätzlichem und kreiste um kulturelle Verschiebungen, die der Filmkritiker Ariel Schweizer an zwei Beispielen deutlich machte. Aus der Beobachtung, dass bei den großen A-Festivals in den vergangenen Jahren häufig Dokumentarfilme als Beste Filme ausgezeichnet wurde, leitete er einen generellen Wandel von ambivalenten, formalästhetischen Sujets hin zu politisch-gesellschaftlich eindeutigeren, „inhaltistischen“ Themen ab, die kulturell leichter identifizierbar sind als ästhetisch komplexe Spielfilme.

In eine in seinen Augen ähnliche Richtung weisen Entwicklungen wie etwa die in Frankreich recht erfolgreiche 50/50-Bewegung, die für einen Wandel der Filmindustrie kämpft, in der Frauen die Hälfte aller Positionen einnehmen. Auch beim Cannes-Festival sind diese Forderungen nicht auf taube Ohren gestoßen, allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme. Während in der Festivalorganisation und in den Auswahlgremien auf eine ausgewogene Geschlechterbesetzung inzwischen großen Wert gelegt wird, verweigerte sich Cannes dem 50/50-Kriterium bei der Filmauswahl. Der Grund: Bei der Filmauswahl zählen nur ästhetische Kriterien, keine politisch-partikularen Aspekte oder Ziele wie Gender, Rasse oder Nation.

Preis im Internationalen Wettbewerg: "Boucan" (Salomé Da Sozua)
Preis im Internationalen Wettbewerb: "Boucan" (© Salomé Da Sozua)

Für diese Position ist das französische Festival heftig kritisiert worden. In einem umfassenderen Zusammenhang geht es dabei aber um gesellschaftspolitische Fragen der Partizipation und der Teilhabe, wie sie in jüngeren Kulturtheorien starkgemacht werden. Die Kehrseite solcher „diversifizierender“ Ansprüche ist im Extremfall die Preisgabe inhaltlicher Unabhängigkeit oder eines universalistischen Anspruchs zugunsten kollektiver Prozesse, Gruppen oder Befindlichkeiten. Mit Blick auf den verfahrenen Nahost-Konflikt, in dem es nur wenige Kräfte gibt, die sich um das kümmern, „was alle angeht“, ist das eine beunruhigende Perspektive.

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