Mit 124 Filmen in fünf Wettbewerben haben die 71. Kurzfilmtage Oberhausen (29.4.-4.5.2025) ein umfangreiches Programm präsentiert, das sich in seiner enormen Vielfalt nicht leicht auf einige Stichpunkte reduzieren lässt. Was hängen bleibt, sind Bilder, die sich einbrennen, unverhoffte Assoziationen und persönliche Bezugspunkte zu Filmen, über die eigene kreative Impulse freigesetzt werden. Eine Passage durch intensive Seherlebnisse in Oberhausen.
1.
„Jailoogo Karay Uzak Jol“ (2025) von Ilgiz-Sherniiaz Tursunbek uulu
Ein Kurzfilm über kirgisische Schäfer. Schafe sind – ebenso wie Küchenmesser, spiralförmige Telefonhörerkabel, Schlüssellöcher – ein kinematografisches Objekt geworden, ein Ding also, das, sobald es in einem Film auftaucht, bereits mit einem Sinn aufgeladen ist. Ein Ding, dessen Bedeutung sich im historischen Verlauf des Mediums verselbstständigt hat. Das Schaf auf der Leinwand ist nie bloß Schaf, sondern immer auch ein in Wolle gepacktes Zeichen. Es steht für den Kampf des bewussten Lebens mit der gleichmütigen Natur. Zudem gibt es den Filmschaffenden Anlass, das Land zu filmen. Entschieden filmisch ist das Schaf, weil es oftmals eine Heldenreise zurücklegt und dabei physikalischen, also sicht- und hörbaren Hindernissen trotzen muss, in diesem Fall etwa einem Fluss. Es ähnelt dabei dem US-amerikanischen Action-Hero, der ja auch bloß seine Ruhe will und sich um seinen Nachwuchs sorgt.
„Gusarapos“ (2024) von Ulysse de Maximy
Ein mexikanischer Junge – sein Haarschnitt und seine Augen erinnern an Yang-Yang aus „Yi Yi“ (2000) – liegt rücklings auf einer Sitzfläche. Seine gestreckten Beine lehnen an der Wand. Sein Kopf hängt über den Rand. Die Hände hat der Junge in den Hosenbund geschoben. Er beobachtet seinen Onkel, wie der sich unter der Dusche wäscht. Die Kamera fährt den Körper des Onkels ab. Etwas später schleicht der Junge ins Bad, kratzt ein schwarzes Haar aus dem Abflusssieb und steckt es sich in den Mund. Nach der Vorstellung lese ich, dass die Handlung sich aus Kindheitserinnerungen des Filmemachers zusammensetzt. Obwohl die Szene, die Anordnung ihrer Figuren im Raum, überhöht ist, habe ich den Eindruck, dass dieser Nährboden der durchlebten Erfahrung durch die Inszenierung hindurch spürbar bleibt. Vielleicht ist es die sachliche Neugierde, mit der der Junge sich das Haar einverleibt, die dem Moment etwas Entwaffnendes gibt.
„Muistot liikkuvat kuin kaukaiset saaret“ (2025) von Saarlotta Virri
Die Dokumentation folgt einer Archäologin durch ein finnisches Sumpfgebiet. Durch die Seen treiben schwimmende Inseln, mit Bäumen bewachsene Teppiche aus Pflanzen und Erde, auf denen sich ein jeder Fußabdruck sofort mit Wasser füllt. Es heißt, die Sümpfe seien zu einer Zeit entstanden, in der riesige Frauen, die Schürzen voller Moos, durch die Welt zogen. Diese Riesinnen streuten das Moos in die Seen und schufen so das Sumpfgebiet. Die Archäologin stößt auf eine fein geschnitzte Schlangenfigur aus Holz, die der Sumpf konserviert hat. Die Augen der Schlange sind aufgerissen, das Maul steht offen. Es heißt, das Land der Toten liege unter Wasser. Die Scheinwerfer eines Autos schneiden durch die Nacht. Sobald es wieder dunkel ist, setzen sich am Straßenrand zwei Mooswesen in Bewegung. Mit schweren Schritten überqueren sie die Landstraße, stapfen durch die Böschung, zurück zu den Auen, in den Sumpf. Im Kino sticht der Mythos die Wissenschaft.
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2.
„Myakish“ (2025) von Elena Kulesh
Der Schimmer der Straßenlichter in der beschlagenen Glasfront hat beinah etwas Sakrales. Drei halbstarke Waisen sitzen in einem Café in Sankt Petersburg. Zwei von ihnen tragen schwarze Ledermäntel, gestohlen aus einem Second-Hand-Laden, um Frauen wie die Auszubildende in der Bäckerei zu beeindrucken. Im Off erzählt ein junger Mann von einer Drogeneskapade. Man habe einen Krankenwagen rufen müssen. Seine Freundin kichert. Eine Frau mit grauem Haar schweigt und trinkt klaren Schnaps aus einem kleinen Glas. Unvermittelt stimmt einer der Waisenjungen, er steht noch vor dem Stimmbruch, ein Kirchenlied an. Er besingt das Bild des Göttlichen, die Blume der Unsterblichkeit, die Jungfrau Maria. Neben dem kleinen Glas, das noch zur Hälfte mit klarem Schnaps gefüllt ist, stehen die dampfenden Pappbecher seiner Freunde. Während der Waisenjunge, der sonst bloß vom Boxen spricht, mit seiner hohen Stimme singt, schneidet der Film auf die zwei Liebenden im Off, die sich nun unverhohlen küssen und nicht wissen, wie sehr die drei Waisen sie um ihr Glück beneiden.
„Polka-Dot Boy“ (2020) von Sarina Nihei
Da ist ein Junge mit kreisrunden, schwarzen Flecken auf der Haut; ein Mädchen, das regelmäßig auf der Straße umkippt und sich Spritzen in den Oberschenkel setzt; ein Personenkult, der im Hintergrund die Strippen zieht und mittels komplizierter Techniken, die Papierflieger und Hasen involvieren, das Schicksal der anderen bestimmt; eine blonde Frau in einem roten Kleid, die Rache schwor und den Mitgliedern des Kults nun mittels diverser Stichwaffen nach dem Leben trachtet. Die animierten Bilder gehorchen dem Prinzip von Tschechows Gewehr und erzählen nur so viel, wie sie müssen. Die Raumdimensionen ergeben sich aus einigen Strichen, ausgemalt wird bloß, was erzählerischen Wert hat. Diese Reduktion aufs Gerippe setzt ein ungemeines Tempo frei. Blicke, Wurfgeschosse, Handlungswendungen, magische Interventionen überschlagen sich und ergeben eine Art handgezeichnetes Genrekino.
„Cuba Libre“ (2013) von Albert Serra
Albert Serras Hommage an Günther Kaufmann beginnt damit, dass der Regisseur auf der Bühne eines kleinen Nachtclubs steht und einen Sänger ankündigt. Der Club hat einen billigen Charme: eine bunte Lichterkette wie aus „Eyes Wide Shut“ (1999), türkises Lametta, eine winzige Diskokugel. Vereinzelter Applaus. Eine Handvoll Nachtschwärmer bevölkert das Off. Das Mikrofon rollt von dem roten Plastikstuhl und fällt zu Boden. Serra bückt sich ungelenk, er wirkt müde. Katharina Huber, die Kuratorin des Films, erzählt, dass der Auftritt des Sängers der Crew eine solche Freude bereitete, dass sie in ihrer Freude das Filmen vergaß. Bloß die letzte Einstellung, eine aus der Hand geschossene Handyaufnahme, stammt aus den Dreharbeiten, so wie sie geplant waren. Die restliche Performance musste in den frühen Morgenstunden ein zweites Mal wiederholt werden. In der ersten Einstellung tritt der Sänger also im Nachglanz bereits verrichteter Arbeit auf die Bühne. Seine Erschöpfung macht ihn selbstsicher und verletzlich. Sie verleiht ihm die Würde eines gebrochenen Herzens.
Badeurlaub
Nachdem im letzten Bild eines Films aus München eine Frau in einen See läuft, erinnere ich mich daran, wie eine Bekannte mal erzählte, dass man eine Produktion meiner Filmschule, der DFFB, daran erkennt, dass am Ende der Erzählung eine Frau in einen See steigt. Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht haben die Filmschaffenden ein schlechtes Gewissen wegen all der Konflikte, die sie ihren Figuren ins Schicksal schreiben. Vielleicht sind sie um Wiedergutmachung bemüht: „Nichts tun wie ein Tier, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts tun, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung …“
3.
„Retales“ (2024) von Juanjo Giménez Peña
In dem spanischen Essayfilm klagt ein Mann, dass er es versäumt hat, seine Eltern zu filmen. In der Arbeiterklasse habe man seine Freizeit nicht dokumentiert. Nun fehlen ihm solche Bilder. Die Leerstelle nimmt eine Szene aus einem Spielfilm ein, mutmaßlich eine Fernsehproduktion. Zwei Wachen mit Pickelhauben und schwarzen Umhängen stehen vor einem Hauseingang. Die linke Wache spielt der Essayfilmer selbst. Für die Arbeit als Statist habe man damals 5000 Peseten bekommen. Während der Dreharbeiten habe die Regieassistenz ihnen erklärt, dass einer von ihnen ein paar Zeilen Dialog aufsagen müsse. Die Sprechrolle bekäme das doppelte Gehalt. Doch weil er, so der Essayfilmer, in der Unterhaltung mit dem Regisseur zu nervös war, spricht in der Szene nun der andere. Er sagt dreimal „Ja“ und einmal „Bring diesen Mann zu Inspektor Roig“. Währenddessen schaut der Essayfilmer bloß stumm in der Gegend herum. Den ganzen Nachmittag habe er die Niederlage verdauen müssen. Er habe genug vom Kino: „Fuck the Dardenne Brothers.“
Dann sehen wir seinen ersten Studentenfilm. Von der Rückbank eines Autos filmt die Kamera einen jungen Mann, der fährt, und eine junge Frau, die ihn anschaut. Nach einem vorsichtigen Blickkontakt an der Kreuzung fallen sie einander in die Arme. Während des Kusses schaut der Mann hastig zur Ampel, die noch immer rot ist. Als die Autos hinter ihnen hupen, lösen die Verliebten ihre Umarmung. An der nächsten Ampel das gleiche Spiel, etwas näher kadriert. Als das Hupen ertönt, lassen sie voneinander ab und fahren weiter. Der dritte Kuss wird in einer Naheinstellung gefilmt. Das Hupen ertönt, die Kamera fährt nach hinten und zeigt, dass das Paar nun am Straßenrand sitzt. Ihre Zärtlichkeiten haben sich vom Rhythmus der Ampelschaltung emanzipiert.
Müde Augen
Stummfilme sind selbstgenügsam. Sie erlauben dem Publikum, die Augen zu schließen, wenn man genug von ihnen hat. Dagegen insistiert der Tonfilm darauf, wahrgenommen zu werden. Er kriecht denen, die nichts mehr sehen wollen, in die Gehörgänge. Den einzigen Trost bieten fremdsprachige Filme, die zwar auf ihren Geräuschen, Stimmen und Klängen bestehen, nicht aber auf deren Sinn.