Drama | Russland/Frankreich 1992 | 110 Minuten

Regie: Pawel Lungin

Der Anführer einer faschistoiden Moskauer Jugendbande macht sich auf die Suche nach seinem jüdischen Vater. Fasziniert von dessen Welt, ändert er seine ursprünglichen Tötungsabsichten und bekennt sich zu ihm. Der in der Charakterisierung der rechtsradikalen Jugendszene etwas oberflächlich wirkende Film vermittelt in seiner Vater-Sohn-Geschichte einen von tiefer Menschlichkeit geprägten, vorsichtigen Optimismus und bedrückende Einblicke in eine Nation (und Filmkunst), die sich im Umbruch befindet. Hervorragend fotografiert und gespielt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LUNA PARK
Produktionsland
Russland/Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
L. Prod./IMA Film/Ciby 2000
Regie
Pawel Lungin
Buch
Pawel Lungin
Kamera
Denis Jewstignejew
Musik
Isaak Schwarz
Schnitt
Elisabeth Guido
Darsteller
Andrej Gutin (Andrej) · Oleg Borissow (Naum) · Natalja Jegorowa (Aljona) · Nonna Mordjukowa (Die Tante) · Michail Golubowitsch (Der Stumme)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Diskussion
Für seinen ersten Spielfilm "Taxi Blues" (fd 28 791) - eine Parabel über das Verhältnis von Arbeit und Intelligenz in der Sowjetunion - erhielt Pavel Lungin 1990 in Cannes den Regie-Preis. Mit "Luna Park" knüpft er an die Zustandsbeschreibung der mittlerweile zusammengebrochenen Supermacht UdSSR an. Andrej und seine Mutter Aljona, Chefin eines Vergnügungsparks, sind die Anführer einer Bande rechtsradikaler junger Erwachsener. Gemeinsam erpressen sie Schutzgelder: Während Aljona die Gäste eines Restaurants mit Liedern unterhält, bedrohen "ihre Jungs" den Wirt. Der "Luna Park" dient ihnen als Jagdrevier auf Homosexuelle, Juden, Rocker - eben auf alle, die nicht ihrem Ideal eines neuen Rußlands entsprechen. Als Aljona Andrej eines Tages eröffnet, daß er nicht der Sohn eines sowjetischen Kriegshelden, sondern des jüdischen Musikers Naum Kheifilz ist, der seine Mutter einst mit dem Versprechen verführt haben soll, ihre Gesangskarriere zu fördern, bricht für ihn eine Welt zusammen. Beseelt von dem Gedanken, seine Mutter zu rächen und diesen Schandfleck auch aus seinem Leben zu tilgen, macht er sich auf die Suche nach Naum. Er findet ihn in einer Altbauwohnung, inmitten eines Haufens "verrückter" Leute. Naum schließt Andrej sofort ins Herz, integriert ihn in die ihm so fremde und eigentlich verhaßte Welt, obwohl er daran zweifelt, Andrejs Vater zu sein. Aber andererseits schließt er die Möglichkeit nicht aus, die ihn auch ein wenig mit Stolz erfüllt. Naum, immer noch mit dem Charme eines alternden Impresarios ausgerüstet, ist so etwas wie eine Institution im Viertel. Die Damen verehren ihn, stecken ihm ab und an ein paar Lebensmittel zu oder verschaffen ihm einen Job als Sänger alt-russischer Weisen auf diversen Festlichkeiten. Andrej, der eigentlich "ausgezogen" war, Naum zu töten, verfällt immer mehr der Faszination des von tiefer Menschenfreundschaft geprägten Lebensstils seines Vaters. Zwar gewinnt noch einmal seine bisherige Gesinnung die Oberhand, und er verrät Naum an seine Kumpane - aber schließlich bekennt er sich zu seinem Vater und seinem Halbjudentum, und gemeinsam "fliehen" sie nach Sibirien.

"Wer sind wir? Die Reiniger - die Retter Rußlands!" skandieren Andrej und seine Gang zu Beginn des Films, um dann auf einem Bauplatz eine Rocker-Bande mit brutaler Gewalt "plattzumachen", wobei die Kamera sich hautnah ins Getümmel stürzt, dem Zuschauer keine Möglichkeit zur Distanzierung läßt und ihn geradezu physisch die Menschenverachtung faschistischen Gedankenguts spüren läßt. Leider verliert der Film dieses Thema dann etwas aus den Augen und degradiert auch die Protagonisten dieser Szene zu Statisten, so daß ihre Beweggründe und Charaktere allzu sehr im dunkeln bleiben. Das gilt überraschenderweise auch für Andrej, die Hauptperson des Films, der, obwohl optisch so präsent, wenig von seiner Psyche preisgibt. Lungin macht einige vage Andeutungen und stürzt sich dann ganz auf die Sohn-sucht-Vater-Geschichte, deren skurrile Begleitumstände fortan den politischen Impetus der Geschichte verdrängen und ihn nur ab und zu wieder aufblitzen lassen. Da paaren sich in Lungins Inszenierungsstil russischer Pessimismus und französische Leichtigkeit zu einem Appell für Toleranz gegenüber Andersdenkenden, der aber so unentschlossen wirkt, daß man die innere Zerrissenheit Andrejs (und damit auch Lungins) zu spüren vermeint, der eine aus den Fugen geratene Welt gerne erklären möchte, aber keine rechte Antwort findet. Vielleicht ist die Flucht von Vater und Sohn ins Niemandsland Sibirien das Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit.

Interessant allerdings, wie Pavel Lungin die Kamera einsetzt: mal "schlägt" sie den Zuschauer in den Szenen roher Gewalt, dann "streichelt" sie ihn mit Bildern voller poetischer Kraft, um ihm dann mit fast dokumentarischem Realismus Einblicke ins Alltagsleben zu geben. "Luna Park" wird eindeutig dominiert von dem gewalttätig und doch verletzlich wirkenden Andrej Gutin, den Pavel Lungin wie seine Banden-Kumpels aus einem Body-Building-Studio rekrutiert hat, und dem augenzwinkemden Charme von Oleg Borisow. Natalia Jegorowas Aljona, die so etwas wie den versteckten (und nun wieder aurbrechenden) russischen Antisemitismus verkörpert, arbeitet sehr nuanciert den Haß vom Leben Enttäuschter heraus. Wenn "Luna Park" auch etwas die Geschlossenheit von "Taxi Blues" vermissen läßt, so ist er doch ein interessantes Dokument einer sich im Umbruch befindlichen Filmkultur, die noch schwankend zwischen Pessimismus und vorsichtiger Hoffnung neue Wege cinematographischer Ausdrucksformen sucht.
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