Gefangen im Kaukasus

Drama | Kasachstan/Russland 1996 | 95 Minuten

Regie: Sergej Bodrow

In einem tschetschenischen Bergdorf werden zwei russische Soldaten als Geiseln gehalten. Sie sollen gegen den gefangenen Sohn des Dorfchefs ausgetauscht oder andernfalls getötet werden. Während des endlosen Wartens entwickeln sich zwischen den Gefangenen und ihren Wärtern menschliche Gefühle, die aus Feinden humane Wesen machen. Nachdenklicher, nüchterner Film nach einer in die Gegenwart übertragenen Novelle von Leo Tolstoi, der beobachtend-analytisch den Möglichkeiten nachspürt, die Grenzen kollektiver Vorurteile zu überwinden, und dadurch die Zwangsläufigkeit von Krieg und Vergeltung in Frage stellt. (Kinotipp der katholischen Filmkritik.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KAWKASSKI PLENNIK
Produktionsland
Kasachstan/Russland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Caravan/Staatliche Russische Filmkommission
Regie
Sergej Bodrow
Buch
Arif Aliew · Sergej Bodrow · Boris Giller
Kamera
Pawel Lebeschew
Musik
Leonid Desjatnikow
Schnitt
Olga Grinschpun · Vera Kruglowa · Alan Baril
Darsteller
Oleg Menschikow (Sascha) · Sergej Bodrow jr. (Vanja) · Dshemal Sicharulidse (Abdul-Mourat) · Susanna Mechralijewa (Dina) · Alexej Scharkow (der Hauptmann)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Warum immer wieder Krieg 'ausbricht', in dem die einen die anderen massakrieren, bleibt eines der dunklen Rätsel, auf die es zwar viele Antworten, für die es aber offensichtlich keine Lösung gibt Der russische Regisseur Sergej Bodrow hat gut daran getan, der unergiebigen Frage nach dem Warum das blutige Faktum des Daß vorzuziehen und sich auf den literarischen Spuren Leo Tolstois ganz darauf zu konzentrieren, wie das mörderische Handwerk funktioniert. Tolstois Novelle "Der Gefangene im Kaukasus" auf der Bodrows nachdenklich-nüchterner Film basiert, erschien vor 125 Jahren, spiegelt aber exakt dieselben Mechanismen wider, die den gegenwärtigen Konflikt am Leben halten. Nur daß die Tataren inzwischen Tschetschenen heißen und neben alten Flinten auch modernstes Kriegsgerät Verwendung findet. Auch die Folgen sind gleich geblieben: Tod, Haß, Vergeltung. Ein endloser Kreislauf?

Ein junger Russe wird eingezogen, kahl rasiert und in einen Tarnanzug gesteckt. Wohin es gehe, will er wissen. "Dem Vaterland kannst du überall dienen." Überall ist ein hügeliges Bergland, das friedlich in der Sonne döst. Bis ein Panzer über die staubige Straße kriecht, auf dem schmalwangige Jugendliche Krieg spielen, sich mit Ruß schwarze Striche ins Gesicht malen. Plötzlich explodieren Granaten, zersiebt Metall die Luft. Nur Wanja und ein Offizier kommen mit dem Leben davon und werden von den Rebellen in ein von jeder Zivilisation verschontes Muslimdorf im Gebirge verschleppt. Dessen Oberhaupt Abdul-Mourat will sie als Geiseln gegen seinen Sohn austauschen, den die Armee gefangen hält. Andernfalls drohe beiden der Tod, dem sie im Ziegenstall aneinandergefesselt entgegenharren. Wanjas Versuche, die schwierige Situation erträglich zu gestalten, weist Sascha, ein sarkastischer Leichtfuß, anfangs brüsk zurück. Doch in den endlosen Tagen des Wartens wächst Respekt und schließlich so etwas wie Freundschaft. Selbst zu ihrem stummen Bewacher Hassan entwickelt sich ein gewisses Vertrauen, und zwischen Wanja und Abdul-Mourats junger Tochter Dina keimt scheue Zuneigung. Als aber auch das zweite Ultimatum verstreicht, versuchen die Soldaten zu fliehen, wobei Sascha zuerst Hassan, später auch einen harmlosen Schäfer tötet, der ihm sein Gewehr nicht aushändigen will. Kurz darauf sind sie von Widerstandskämpfern umstellt, wird Sascha die Kehle durchschnitten, Wanja in ein Erdloch geworfen. Irgendwann dringt aus der Garnisonsstadt die Nachricht in die Einöde hinauf, daß der Sohn beim Fluchtversuch erschossen wurde. Obwohl Dina nicht zögert, ihrem Feind zu helfen, schleift Abdul-Mourat den Jungen wenig später mit sich fort. Ein Schuß halt durch das Tal, der nicht das Ende ist.

"Es ist Krieg": Für den kampferfahrenen Soldaten Sascha reicht diese schlichte Erklärung, warum die fremden Bergbauern seine Feinde sind. Ungeachtet aller zwischenmenschlichen Nähe sticht er im entscheidenden Augenblick zu. Ohne Zögern, ohne Mitleid, wie er auch seiner Hinrichtung trotzig-gelassen entgegensieht: Ein Soldat im Krieg. In Wahrheit aber beherrscht ihn ein erworbener Reflex, eingedrillt durch die Militärmaschinerie, die jedes eigene Denken zugunsten der Order oder des puren Überlebenstriebs ausgemerzt hat; ein kollektives Handlungsmuster, das genährt und am Leben erhalten wird durch die permanente Gehirnwäsche von Vorurteilen und kulturellen Diffamierungen, die aus empfindsamen Wesen kaltblütige Mordautomaten machen. Einmal intoniert Wanja zaghaft ein Soldatenlied, in das Sascha einstimmt und mit ihm - so suggeriert es die Tonspur - die ganze Rote Armee, bis die kahlen Berghänge widerhallen vom heroischen Triumphgesang, in dem die Einsamkeit der Gefangenschaft wie weggeblasen scheint. Auf der anderen Seite aber steht die Erfahrung, wie aus verhaßten Feinden Menschen werden, wie bloße räumliche Nähe tiefverwurzelte Aversionen untergraben kann und aus dem Untier ein Schicksal mit Namen und Geschichte macht. Was für die Dorfbewohner ein "Russe" bleibt, der schnellstens getötet werden muß, enthüllt sich für die 13jährige Dina als ängstliches, hungerndes, frierendes Gesicht, das mit neugierigen Augen die scheinbar vorzivilisatorische Welt erforscht, ihr durch kleine Zeichen wie einen aus Abfall gebastelten Vogel zu verstehen gibt, das er ihresgleichen ist. Auch untereinander löst sich der Zwang der Uniformität schrittweise auf, schimmert hinter Saschas schnoddriger Fassade das Schicksal eines Waisenkindes durch, das nichts anderes als Töten gelernt hat, offenbart Wanja seine Sehnsucht nach der Mutter, gibt selbst der stolze Patriarch sich eine Blöße, wenn spürbar wird, wie sehr das Schicksal seines Sohnes ihn bewegt.

Von Landserromantik ist Bodrow dabei soweit entfernt wie von rührseliger Auflösung ins Psychologische, weil seine filmische Umsetzung jede simple Identifikation verwehrt. Ohne einen fast dokumentarischen Blick auf die ärmliche Welt der Bergregion aufzugeben, gelingt es dem Film, die latente Todesangst im Hintergrund greifbar zu halten. Retardierende Momente, meist im Zusammenhang mit Liedern, Tänzen oder Musik, wechseln geschickt mit extremen Situationen, wenn die Gefangenen von den Rebellen als lebende Minendetektoren eingesetzt werden oder Wanja seine Mannlichken beim Ringkampf gegen einen trainierten Gegner unter Beweis stellen soll. Daß dabei im Grunde jede politische Stellungnahme ausgeklammert bleibt, fällt so wenig auf wie der Umstand, daß der Regisseur bei aller dramaturgischen Akzentuierung stets eine beobachtend-analytische Perspektive einnimmt. Die magisch-fantastischen Einsprengsel, in denen der tote Sascha zufriedener als im Leben erscheint, oder Dina ihre Hochzeit mit dem blassen Russen fantasiert, fügen sich so mühelos in dieses Drama wie das erschütternde Schlußbild, in dem vier Kampfhubschrauber Richtung Gebirge donnern, um ihre Kameraden zu rächen. Das Flehen von Wanjas Mutter, die Gefangenen doch auszutauschen, hatte der Kommandant mit dem Hinweis abgelehnt, daß es im Krieg immer Verluste gebe, ihr aber wie zum Trost Vergeltung versprochen. Der Krieg ernährt den Krieg, hieß das einmal: Ein perpetuum mobile, das seine zeitübergreifende Gültigkeit täglich neu unter Beweis stellt.

Die Trauer, die einen angesichts solcher Zwangsläufigkeit überwältigen will, hält Bilder wie Strohhalme fest, in denen Fremde voreinander nicht die Augen verschließen. In den Blicken, die zwischen Dina, Hassan, Wanja und Sascha hin- und herwandern, wohnt neben Abschätzung und Distanzierung eine zutiefst humane Kraft: der Widerschein des eigenen im Antlitz des anderen, den man vielleicht sprachlich nicht versteht, dessen Kultur und Lebensgewohnheiten man nicht teilen kann oder will, der aber ein Mensch wie man selbst ist. Dies verhindert keine Katastrophen, beendet keinen Krieg, hebt keine Konflikte auf. Vermittelt vielleicht aber den Mut, hie und da selbst die Augen aufzuschlagen.
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