Palast des Schweigens

- | Tunesien/Frankreich 1994 | 127 Minuten

Regie: Moufida Tlatli

Tunis 1966: Nach dem Tod des Prinzen kehrt eine junge Frau in dessen Palast zurück und erinnert sich an ihre Kindheit und die Mutter, die dort als Dienerin lebte und dem Fürsten als Mätresse diente. Ein in zahlreichen Rückblenden erzählter Film, der Formen des Melodrams nutzt, um die Ausbeutung und sexuelle Verdinglichung der Frau anzuprangern. Für westliche Zuschauer bisweilen eventuell irritierend, vermittelt er hinter seiner Exotik eine Fülle bitterer Wahrheiten und nimmt trotz aller dramaturgischen Zurückhaltung eine eindeutige Position ein. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
SHAMT AL KUSUHR | LES SILENCES DU PALAIS
Produktionsland
Tunesien/Frankreich
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Cinétéléfilm/Magfilm/Mat Films
Regie
Moufida Tlatli
Buch
Moufida Tlatli
Kamera
Youssef Ben Youssef
Musik
Anouar Braham
Darsteller
Amel Hedhili (Khedija) · Hend Sabri (Alia als Kind) · Ghalia Lacroix (Alia als Erwachsene) · Sami Bouajila (Lofti) · Kamel Fazaa (Sidi Ali)
Länge
127 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
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Diskussion
Zehn Jahre nach ihrer Flucht betritt Alia erstmals wieder den Palast. Prinz Sidi Ali ist gestorben, und die gescheiterte Sängerin erweist den Trauernden ihre Reverenz. Ihr Besuch bringt sie nicht nur wieder den vielen Dienerinnen nahe, die als willfährige, schweigsame Dienstboten das Reich des Prinzen am Leben hielten, er konfrontiert sie auch mit ihrer eigenen leidvollen Vergangenheit, mit ihrer Kindheit, ihren Träumen und Ängsten - und mit dem Bild ihrer Mutter Khedija, deren Grab sie noch nie besucht hat und die in den erzählerischen Mittelpunkt rückt, während das Kind Alia den Posten der akribischen Beobachterin einnimmt, mal wißbegierig, mal mit schreckgeweiteten Augen.

Khedija wurde als Kind an den Prinzen verkauft. Seit ihrem zehnten Lebensjahr lebt sie im Kreis der Dienerschaft, wobei ihr in späteren Jahren die fragwürdige Gunst zuteil wird, die Abendgesellschaften des Prinzen mit ihrem Gesang zu zieren - und das Bett des Prinzen zu teilen. Wahrscheinlich geht aus dieser Verbindung die kleine Alia hervor, der Film hält diese Frage, die später die Wunschfantasien des Kindes beherrschen wird, in der Schwebe. Zumindest wird Alia am selben Abend wie die Tochter des Bruders des Prinzen geboren. Doch während dieser glücklich sein Kind in den Armen hält (auch wenn es "nur" ein Mädchen ist), eilt der Prinz nach Alias Geburt zu seiner Frau, ohne das Kind eines Blickes zu würdigen. Fortan wachsen die Mädchen glücklich und fast gleichberechtigt nebeneinander auf. Doch im Lauf der Jahre bekommt Alia den Makel ihrer Geburt immer nachhaltiger zu spüren. Gerade noch spielen die Mädchen zusammen, dann stellt sich die Prinzenfamilie zum Gruppenfoto, Alia will mit von der Partie sein, wird jedoch in ihre Schranken verwiesen. Später läßt sich der Prinz mit seiner Nichte und Alia fotografieren, ganz väterlich, ohne sich als Vater zu bekennen.

Alia lernt das Leben im Palast aus der Untersicht kennen, dem Blickwinkel der Dienerschaft. Ein mühseliges, aber zufriedenes Leben wie es scheint: Man sitzt zusammen, bereitet die Speisen vor, schwatzt und lacht. Doch Alia merkt intuitiv, daß es jenseits dieses offiziellen Lebens ein Geheimnis geben muß. Jene Abende, an denen die hübsche Mutter sich noch hübscher macht, das Kind allein in der Kammer zurückläßt, das Tuscheln der Frauen, die (noch) unverständlichen Andeutungen, die Blicke, die die männliche Herrschaft den jungen Dienerinnen zuwirft - all das läßt die Heranwachsende immer häufiger nach ihrem Vater fragen. Fragen, denen die Mutter immer vehementer ausweicht. Dann ereignen sich entscheidende Dinge. In den Straßen von Tunis formiert sich der Widerstand gegen die französischen Kolonialherren. Alia muß miterleben, wie ihre Mutter von einem der Hausherrn vergewaltigt wird, ein völlig überflüssiges Vergehen, weil sie ihm ohnehin zu Diensten steht. Alia bekommt ihre erste Regelblutung - ein Augenblick, den die Mutter gefürchtet hat. Bald verlangt der Prinz, Alias hübsche Stimme solle seine Empfänge bereichern, der Rest ist nur noch eine Frage der Zeit. Während Alia bei der Verlobung ihrer Freundin weilt, stirbt die Mutter an den Folgen einer Abtreibung. Noch in dieser Nacht entflieht das Mädchen seinem Gefängnis.

Eine leidvolle Kette von Erinnerungen, doch nicht ganz ohne Hoffnung. Am Ende bekennt sich die schwangere Alia zu ihrem Kind, während ihr schwacher Geliebter sich nicht so recht zur ihr bekennt und eine Abtreibung fordert. Es ist ein Akt der Emanzipation, ein Auflehnen gegen die herrschende Meinung und Tradition. Moufida Tlatli, die 1968 ihr Studium an der Pariser Filmhochschule abschloß und erst 26 Jahre später ihren ersten eigenen Film realisieren konnte, hat diesen Film ihrer Mutter gewidmet. Sie erzählt ihre Geschichte mit einer Vielzahl von Rückblenden, die zunächst fast stakkatoartig geschnitten sind, dann immer länger werden. Wie der in den Palast zurückgekehrten Alia wird durch diese Montagetechnik auch dem Zuschauer das Leben im Palast immer vertrauter, genau wie die Hauptdarstellerin entrückt auch er immer mehr in die Vergangenheit. Die Regisseurin konfrontiert so mit einer Gesellschaft, in der die Männer die Geschicke lenken und die islamischen Traditionen bewahren, während die Frauen bis zur sexuellen Verfügbarkeit verdinglicht sind. Es werden Machtstrukturen deutlich, die den Frauen jedes Recht auf Individualität und Selbstverwirklichung, auf ihren Körper und ihre Sexualität absprechen. Sichtbar wird ein Universum, das auf Unterdrückung (die männliche Seite) und Gehorsam (die weibliche Kehrseite) aufgebaut ist, und dessen Nahtstellen durch das Unausgesprochene, den nicht ausgestoßenen Schrei, eben das Schweigen gekittet werden. Obwohl sich die Regisseurin Zurückhaltung auferlegt, ihrer Geschichte melodramatische und damit unterhaltende Züge verleiht und den Film sehr opulent und folkloristisch ausstattet, werden sich europäische Augen ein wenig schwer tun. Zudem ist ihr ein äußerst kämpferischer feministischer Film gelungen, der nicht nur die Vergehen der Vergangenheit anprangert, sondern auch auf die Gegenwart verweist. Nach den Buchstaben des Gesetzes ist zwar in Tunesien die Gleichberechtigung weitgehend hergestellt, doch Traditionen behindern nach wie vor ihre tatsächliche Einführung. Wie ambivalent sich in dieser Beziehung die Gesellschaft verhält, dafür steht die Filmfigur des Lehrers Lofti. Er ist ein aufgeschlossener Intellektueller, der die Revolution befürwortet, mit Alia aus dem Palast flieht und zehn Jahre mit ihr zusammenlebt, jedoch nicht im Traum daran denkt, sie zu heiraten. In seinen Augen sind ihre Herkunft, ihr Beruf als Sängerin und ihre Schwangerschaft als unverheiratete Frau minderwertig. Anspruch und Wirklichkeit sind anscheinend nicht in Einklang zu bringen.

Getragen wird der Film von hervorragenden Darstellerinnen, die drei Frauengenerationen in den verschiedenen Stadien der Verdinglichung verkörpern: die Älteren als asexuelle "gute Geister" in der Küche, die Attraktiven als allzeit verfügbare Lustobjekte, die Mädchen, die später die Rolle ihrer Mütter übernehmen werden. Aus diesem Ensemble ragt die junge Hend Sabri hervor, die Alia völlig unprätentiös gibt, der man das spielende Kind ebenso glaubhaft abnimmt wie die Heranwachsende, die die Schrecken des Lebens erahnt, oder die ganz junge Frau, die das Leid der Welt erlebt. Sie trägt zum Gelingen dieses interessanten, in seiner Fremdartigkeit etwas sperrigen Films bei, der weit mehr ist als Unterhaltung aus einem exotischen Filmland und auch vermeintlich auf- und abgeklärten westlichen Zuschauern einiges zu Denken geben kann.
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