Gadjo Dilo - Geliebter Fremder

Drama | Frankreich/Rumänien 1997 | 101 Minuten

Regie: Tony Gatlif

Ein junger Franzose kommt in ein abgelegenes rumänisches Dorf, das von Roma bewohnt ist. Auf der Suche nach einer Sängerin, deren Musik sein Vater in der Todesstunde hörte, trifft er einen alten Musikanten und ein Zigeunermädchen, das seine erste große Liebe wird. Mit Hilfe dieser Begegnungen philosophiert der Film über Wurzellosigkeit und das Finden der Heimat in sich selbst. Die Leistungen der Darsteller und eine Vielzahl folkloristischer Ingredienzen machen ihn zu einem Werk voller archaischer Kraft und Poesie, zu einer Hymne auf die Urgewalt der Gefühle. (Leider nivelliert die deutschen Synchronfassung die unterschiedlichen Sprachen der Protagonisten und konterkariert damit in manchen Szenen die subtilen Nuancen der Originalfassung; Videotitel: "Geliebter Fremder") - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
GADJO DILO
Produktionsland
Frankreich/Rumänien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Princes Films/Canal +/Centre National de la Cinématographie/Ministère de la Culture/SACEM
Regie
Tony Gatlif
Buch
Tony Gatlif
Kamera
Eric Guichard
Musik
Tony Gatlif
Schnitt
Monique Dartonne
Darsteller
Romain Duris (Stéphane) · Rona Hartner (Sabina) · Izidor Serban (Izidor) · Ovidiu Balan (Sami) · Dan Astileanu (Dimitru)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Die Handlung ist nicht neu: Der Held kommt in eine Umgebung, von der er wenig weiß, die ihn aber von Anbeginn an fasziniert. Er beginnt, dieses Universum für sich zu erschließen, wie ein Kleinkind, mit dem Nachplappern unbekannter Worte und dem neugierigen Blick aus weit aufgerissenen Augen. Später, nach der Katastrophe, wird er aus dem Paradies vertrieben, verläßt es aber als ein neugeborener Mensch: reicher an Lebenserfahrung und Wissen, sensibler für „fremde“ und eigene Gefühle. Tony Gatlif baut die Mauern zwischen seiner Hauptfigur, dem jungen Franzosen Stéphane, und den Roma, in deren Dorf er gerät, von vornherein nicht allzu hoch. Stéphane hat schon vor der ersten Begegnung eine imaginäre Bindung zur Kultur der „Zigeuner“: Sein Vater, der vor kurzem starb, hörte in seiner Todesstunde ein Tonband mit Liedern der Roma-Sängerin Nora Luca; nun hat sich der Sohn auf die Suche nach ihr begeben. Zur selben Zeit, als er in den Umkreis des Dorfes gerät, wird – parallel montiert – ein anderer junger Mann von Polizisten abgeführt. Es ist der Sohn des Musikers Izidor, und weil der Alte nicht ohne Kind zu existieren vermag, adoptiert er Stéphane vom Fleck weg und öffnet ihm sein Haus.

Gatlifs Kunstgriff besteht darin, Klischees einfach umzudrehen: Der Pariser Junge tritt so in den Film ein, wie sich ein durchschnittlicher Mitteleuropäer einen „Zigeuner“ vorstellen würde: vagabundierend auf den Landstraßen Rumäniens, mit zerschlissenen Schuhen und abgeschabten Kleidungsstücken. Die Roma dagegen sind seßhaft: Sie wohnen in eigenen Häusern und Zelten, haben sich ihr Dasein weitgehend eingerichtet, sind Kesselflicker oder Musikanten oder Mütter vieler Kinder. Nicht sie werden als „Hühnerdiebe“ beschimpft sondern der „Fremde“ aus Paris. Ein scherzhaftes Spiel mit bitterernstem Hintergrund. Die merkwürdige Beziehung zwischen dem jungen Stéphane und dem alten Izidor fesselt von der ersten Sekunde an. Weil der Alte als eine Art Dorfoberhaupt gilt und die Verwandt- und Bekanntschaft weitgehend auf ihn hört, erspart das dem Film lange Umwege. Gatlif steuert schnurstracks auf seine inhaltlichen Fixpunkte zu – Liebe und Folklore. Beides hilft den Menschen, so sein Credo, einen Platz zu finden, der Heimat genannt werden darf; und beides wird ausgiebig zelebriert. Hinter der Legende vom Sterben des leiblichen Vaters und Stéphanes Suche nach Nora Luca steckt mehr als nur ein dramaturgischer Anlaß für überbordende folkloristische Ingredienzen. Nach und nach offenbart der Junge, daß es nicht nur der Tod war, der ihm den Vater nahm. Auch als dieser noch lebte, hatte er sich der Familie oft entzogen: auf monatelangen Reisen um die Welt, beim Erforschen des Liedguts anderer Völker. So ist die Odyssee des Sohnes gleichsam eine Suche nach dem Geheimnis des Vaters, nach den Ursachen von dessen Wurzel- und Heimatlosigkeit.

In der letzten Szene schlägt Stéphane dann rigoros einen anderen Weg ein als sein Vater, der das Leben wie ein Besessener auf Tonbändern speicherte und dabei immer auf der Flucht vor sich selbst war. Der radikale emanzipatorische Akt des Jungen, das Vernichten der Audiokassetten, hat natürlich mit dem Ersatzvater zu tun: Izidor trug seine Heimat stets im Herzen und bedurfte keiner Reisen oder technischer Gerätschaften, um sich zu finden. Dramaturgisch untermauert wird der pointierte Epilog auch durch die Liebesgeschichte zwischen Stéphane und Sabina, einem Roma-Mädchen, das ihn erst abweist, sich dann aber mit all seinen Sinnen öffnet. Als er den Dorfleuten zum ersten Mal das Tonband mit Liedern von Nora Luca vorspielt, blickt es durchs Fenster; Gesang und Sabinas Gesicht überlagern sich – eine Sequenz, die signalisiert, daß der Junge zwar nicht die Gesuchte, dafür aber seine eigene große Liebe gefunden haben könnte. Später finden sich die beiden am Ort ihrer Geburt, gleichsam einer magischen Quelle, und laufen ausgelassen, nackt und frei durch den Wald: Adam und Eva in der rumänischen Wildnis. Kontrapunktisch zu diesen Bildern setzt Gatlif die Vertreibung aus dem Paradies: eine Montage, in der sich Liebe und Haß als Urgewalten begegnen. Die Roma müssen aus ihrem Dorf fliehen – ein Exodus, der keinen metaphysischen, sondern einen sehr realen, sozial motivierten Grund hat. Izidors „wahrer“ Sohn kehrt aus der Haft zurück, provoziert in der Kneipe ein paar rumänische Männer, die dann die Siedlung stürmen und anzünden.

Dieses brutale Brandschatzen ist der fulminante Höhepunkt einer Reihe sorgsam gesetzter, dichter Beobachtungen über das Verhältnis zwischen Rumänen und Roma. Mit wenigen Strichen gelingt es Gatlif, die Spannungen zwischen beiden Volksgruppen transparent zu machen, etwa das feindselige Schweigen der Rumänen, sobald Roma ihre Gaststätte betreten. Die unsichtbare Mauer wird nur durchlässig, wenn „Zigeuner“ bei rumänischen Familienfesten zum Tanz aufspielen. Eine der berückendsten Szenen entspringt der utopischen Hoffnung auf andere, bessere Möglichkeiten des Zusammenlebens, auf Gleichheit und Brüderlichkeit. Als Izidor seinen Ersatzsohn zum ersten Mal stolz in der Kneipe vorstellt, läßt er seiner Fantasie über die gesellschaftliche Anerkennung der Roma in Frankreich freien Lauf. Dort seien sie längst in die privilegierten Berufsgruppen aufgestiegen, würden als Anwälte und Oberste arbeiten; niemand zeige mit dem Finger auf sie, im Gegenteil: „Alle mögen sie.“ In solchen Szenen erweist sich der transsylvanische Dorfmusiker Izidor Serban, ein Laie, als unübertreffliches Naturtalent. Ihm verdankt der Film einen Großteil seiner Stärke und Schönheit. Unvergeßlich etwa der Tanz des alten Mannes am Grab eines Bekannten, ein Kraftakt, bei dem sich gängiges Ritual und ehrliche Trauer zu einer emotionalen Explosion ballen. Neben Serban haben es die anderen Hauptdarsteller schwer, auch Romain Duris als Stéphane, der oft in der Rolle des passiven Zuschauers verharren muß. Wenn „Gajdo dilo“ in einigen wenigen Bildern den Eindruck kunstgewerblicher Exaltiertheit hinterläßt, liegt das nicht zuletzt an Rona Hartner als Sabina, die zu viel chargiert, die „Exotik“ eines Zigeunermädchens mitunter grell und impulsiv ausstellt. Romain Duris und Rona Hartner sind die einzigen Berufsakteure des Films. Alle anderen Darsteller fand Gatlif an den rumänischen Originalschauplätzen. Ihre Mitwirkung verhilft „Gadjo dilo“ zu einzigartigen authentischen Momenten: etwa in solch beiläufigen, leisen Szenen wie jener, in der sich Roma-Frauen über die Zahl der Babys in französischen Familien unterhalten und befremdet von Stéphane abrücken, als sie erfahren, daß in Mitteleuropa die Ein-Kind-Familie dominiert.

Mit „Gajdo dilo“ hat der aus einer algerischen Zigeunerfamilie stammende Gatlif seine dritte Arbeit über Roma-Schicksale vorgelegt. Nach „Die Prinzen“ (1983, fd 25 242) über das Scheitern eines jungen Mannes an den elenden Umständen einer Pariser Vorstadtsiedlung und „Latcho drom“ (1992), einer Skizze über den Weg des Roma-Volkes von Rajastan nach Andalusien, ist „Gadjo dilo“ der publikumswirksamste, sinnlichste Teil des Triptychons: Ein tragikomisches Werk voller archaischer Kraft und Poesie, eine Hymne auf die Urgewalt der Gefühle. Und ein Film, in dem Authentisches und Gleichnishaftes auf glückliche Weise verschmelzen.
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