Butcher Boy - Der Schlächterbursche

Drama | USA/Irland 1997 | 106 Minuten

Regie: Neil Jordan

Ein Zwölfjähriger erlebt im Irland der 60er Jahre seine Pubertät, die ihn in die emotionale Isolation treibt und schließlich scheinbar grundlos eine Nachbarin ermorden läßt. Eine hochsensible Studie über Kindheit und Gesellschaft, katholische Erziehung und die Suche nach Fluchtpunkten der Fantasie. Der virtuos gestaltete Film zeigt die Umgebung seines tragischen Helden weniger als sozialen, denn als emotionalen Umraum und ist in seiner finsteren Märchenhaftigkeit stets auch auf beklemmende Weise komisch. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
THE BUTCHER BOY
Produktionsland
USA/Irland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Warner Bros./Geffen Pict.
Regie
Neil Jordan
Buch
Neil Jordan · Patrick McCabe
Kamera
Adrian Biddle
Musik
Elliot Goldenthal
Schnitt
Tony Lawson
Darsteller
Stephen Rea (Benny Brady) · Fiona Shaw (Mrs. Nugent) · Eamonn Owens (Francie Brady) · Alan Boyle (Joe Purcell) · Aisling O'Sullivan (Annie Brady)
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Er selbst habe sich an „Zeit der Wölfe“ (fd 25 000) erinnert gefühlt, sagt Neil Jordan über seinen neuesten Film. Und tatsächlich hat man eine so finstere Kindheitsgeschichte seit den Tagen jenes bittersüßen Märchenfilms, mit dem Jordan 1984 zu einem Protagonisten des Neuen Britischen Kinos avancierte, nicht mehr auf der Leinwand gesehen. Selbst Peter Jacksons romantisch-fantastische Variation über ein ähnliches Thema, „Heavently Creatures“ (fd 31 127), bot dem Zuschauer noch manche komfortable Nische als Fluchtmöglichkeit vor der unlösbaren Tristesse. Die Bonbon-Farben der frühen 60er Jahre dekorieren die irische Kleinstadt Clones wie lieblos verteilte Zuckerstreusel einen Teller trockener Weihnachtsplätzchen, und wenn es ein eindrückliches Bild für die manische Depression der Mutter des 12jährigen Joe gibt, so ist es ein obsessiver Anfall von Backsucht. Schon klebt ein Törtchen auf der Mattscheibe des Fernsehers, dem einzigen Fenster zu Fantasie und Abenteuer der alten Western-Serials mit John Wayne und den „Three Mesqueteers“. Teller mit Sahnekringel stapeln sich in der Küche lieblos übereinander. Der Priester, heißt es, würde sie schon gerne essen, und hierin erschöpft sich dann auch sein Dienst am allgemeinen Seelenheil. So ist alles, was für gewöhnlich mit häuslicher Liebe assoziiert wird, ein erdrückender Zwang in Joes Elternhaus. Als er dann doch einmal fortläuft, wie es Walter Benjamin dringend allen Pubertierenden geraten hat, kommt es noch schlimmer. Bei seiner Rückkehr platzt er geradewegs in die Beerdigung der Mutter, die ihre ständigen Suizidabsichten endlich verwirklichen konnte. Natürlich gibt man Joe die Schuld, doch der hat längst ein anderes Feindbild, das er hegt und pflegt. Es ist die in seinen Augen ebenso neugierige wie gehässige Nachbarin: Diese Mrs. Nugent ist verantwortlich für alles Übel, und so trifft sie die Verwüstung ihres Hauses gerade recht, die Joe wiederum in die Besserungsanstalt katapultiert. Hier wird aus ihm dann doch noch so eine Art „working class hero“, doch auch damit kann sich der aufs Anderssein gepolte, überaus intelligente Junge nicht abfinden. Als ihm dann unvermittelt die Jungfrau Maria erscheint, wird er zum Liebling eines pädophilen Paters. Die anderen Zöglinge nehmen es mit Befremden zur Kenntnis.

„In gewisser Weise ähnelt das Ambiente dem Märchenreich, das wir für ‚Zeit der Wölfe’ erschaffen haben,“ erklärt Jordan den Zusammenhang der beiden Filme, „denn es handelt sich um ernste Filme, die zufällig auch lustig sind.“ Wäre nicht alles auch immer irgendwie lustig, man müßte in dieser Welt verzweifeln oder sie gar für das realistisch beschriebene Milieu eines jugendlichen Straftäters halten – nutzt doch der aus dem Heim entlassene Joe einen neuen Job als Schlachtergehilfe bald zu einer blutigen Tat im Hause Nugent. Doch Jordans Film, und das macht ihn gerade in der gegenwärtigen Diskussion um etwaige mediale Einflußsphären kindlicher Gewaltverbrechen so bedeutend, geht es um etwas ganz anderes. Wie Peter Jackson in „Heavenly Creatures“ zeigt er die Umgebung seines tragischen Helden weniger als sozialen, denn als emotionalen Umraum. Andererseits interessieren ihn diese inneren Projektionsflächen nicht als poetische Schauräume, in die man als Zuschauer herzlich eingeladen wird. Jeder Spaß, den sein schlagfertiger Held dem Zuschauer bereitet, jeder Ausbruch von Schadenfreude, muß vom Betrachter bitter bezahlt werden. „Pay for your pleasures“, hieß einmal eine Arbeit des Künstlers Mike Kelley, die der Fantasie eines Serienmörders gewidmet war: „Zahle für deine Freuden.“ Dieser Satz meinte das alte katholische System von Schuld und Ablaß, dem schließlich auch die Schaulust ihre Legitimation verdankt. Wie „Zeit der Wölfe“ führt „The Butcher Boy“ in ein mittelalterliches und doch ganz nahes Märchenreich, eine Welt der Spießigkeit und der erstickten Fantasie. Wenn in Großbritannien gegenwärtig wieder Kinder ins Gefängnis wandern, ist Neil Jordans Film ein Plädoyer gegen das wahre Medienübel. Und das liegt bekanntlich weniger in der Vorliebe für Gewalt als in der für die einfachen Erklärungen.
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