Megacities

- | Österreich 1998 | 94 Minuten

Regie: Michael Glawogger

Dokumentation, die in Bombay, Mexiko Stadt, Moskau und New York Szenen abgrundtiefen Elends aufspürt und zu einer hochkomplexen Studie über die Armut sowie ihre Ursachen und Folgen arrangiert. Da der Filmemacher nicht davor zurückscheut, das vorgefundene Material zu stilisieren und sogar nachzuinszenieren, verläßt er die konventionellen Spuren des dokumentarischen Filmemachens. In dem allgemein "Globalisierung" genannten Spiel, in dem es wenige Gewinner und Millionen von Verlierern gibt, setzt er eindeutige Zeichen, wem seine Sympathien gehören. Sein Film ist unter diesem Gesichtspunkt ein ebenso mutiger wie innovativer Beitrag zur Film- und Sozialgeschichte. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
MEGACITIES
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Lotus Film/Fama Film
Regie
Michael Glawogger
Buch
Michael Glawogger
Kamera
Wolfgang Thaler
Musik
Dmitri Schostakowitsch · u.a.
Schnitt
Andrea Wagner
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Seit die Sprachen verwirrt und die Menschen über diese Erde zerstreut worden sind (Genesis 11), scheinen sie allerorten an ihrem Babylon-Projekt weiterzuwerkeln. Riesige Metropolen in Asien, Europa und Amerika mit bis zu 25 Millionen Einwohnern werden nun nicht mehr vertikal vorangetrieben, sondern horizontal. Dem Himmel näher gekommen ist die menschliche Spezies auf diese Weise jedenfalls noch nicht – eher im Gegenteil. Michael Glawogger hat in seiner Dokumentation vier solcher „Megacities“ in einem filmischen Gemälde zusammengefaßt, das – dies sei vorausgeschickt – an Schmutz, Tristesse, Armut und Verworfenheit kaum noch zu überbieten ist. Vom wohligen Kinosessel aus wird der Zuschauer mitten hinein getaucht in einen wahrhaft globalen Morast menschlichen Elends; und dies alles in Farbe, Breitwand und Dolby Stereo. Allenthalben stellt sich dabei die Frage nach der Legitimation: Darf man das? Dürfen wir aus unserer komfortablen mitteleuropäischen Perspektive heraus so etwas? Handelt es sich hier vielleicht um eine Wiederbelebung des zu Recht in Vergessenheit geratenen Genres der „Mondo-Filme“, diesmal unter dem Titel „Mondo Misero“? Glawoggers Provokation hat Methode: Gerade indem er den sonst für das Thema üblichen Betroffenheitsgestus verläßt, seine Elendsprotokolle inszeniert, verfremdet und stilisiert, stellt er selbst diese Fragen immer wieder und unüberhörbar. Sein Film macht es sich beileibe nicht leicht, bedeutet auch eine Infragestellung des filmischen Prinzips schlechthin. Und ist schon dadurch absolut legitim.

Mexico City: Die nicht mehr junge Frau mit dem „Künstlernamen“ Cassandra arbeitet sieben Tage in der Woche in einem Eros-Center. Vollständig entblößt kriecht sie zu übersteuerten Schlagermelodien über einen Laufsteg, wo sich Dutzende von angetrunkenen Männern förmlich an ihren Körperöffnungen festsaugen. Nach Feierabend umsorgt sie ihre drei Kinder. Toni in New York City handelt mit Crack. Vor der Kamera behauptet er, selbst keinesfalls süchtig zu sein, vielmehr die Droge fest im Griff zu haben. Auf die Frage, was er sich vom Leben noch erhoffen würde, hebt er langsam zu einer Entgegnung an, schläft aber während der Antwortsuche ein. Es wird klar: Toni hat schon lange keine Träume mehr. Ebenfalls nur noch von Wach- oder Albträumen heimgesucht werden die zahlreichen Männer Moskaus, die allnächtlich in Ausnüchterungszellen weggeschlossen werden, wo sie sich, festgebunden auf Pritschen, unter den Entzugserscheinungen hin- und herwerfen, nach ihrer Mutter, nach Gott und weiterem Alkohol rufen. In Bombay unter einer Plane schließlich sitzt Babu Khan und siebt Farben. Einen großen Batzen Pigmentmasse zerkleinert er so lange, bis feines Pulver übrig bleibt. Er tut dies viele Stunden lang am Tag und spricht Richtung Kamera: „Ich arbeite schwer. Ich bin unglücklich.“ Man glaubt es ihm. Jede Pore seines Körpers ist am Ende eines solchen Arbeitstages mit Farbstaub gefüllt. Babu Khan würde durchaus gern in sein Heimatdorf zurückfahren, aus dem er vor Jahren gekommen war – allerdings verdient er trotz aller Schinderei nicht einmal genug, um sich ein Ticket kaufen zu können.

Glawogger arbeitet die Stationen seiner Reise nicht nacheinander ab, wechselt vielmehr die Schauplätze auf scheinbar willkürliche Weise. In zwölf Kapiteln ordnet er sein Material, das er vorher aus dem Strudel der vorgefundenen Realitäten gefischt hat. Dieses „Zappen“ zwischen den Kontinenten unterliegt einer kunstvollen Montagetechnik, die sich sogar innerhalb einzelner Szenen reproduziert. Die Tatsache, daß es neben den herausgegriffenen Beispielen immer noch Menschen gibt, denen es noch schlechter geht, erfährt ihre konkrete ästhetische Beschreibung z.B. durch vertikale Kameraschwenks. Wenn sich der indische Farbensieber am Abend sorgfältig wäscht und den farbigen Inhalt seiner Schüssel wegkippt, verfolgt die Kamera den Weg dieser Flüssigkeit. Diese rinnt an einer Mauer hinab zur Kloake, die vielleicht einmal ein Fluß war. Durch diese Kloake staken zahlreiche Müllsammler, die aus dem undurchdringlichen Rinnsal Scherben und Lumpen klauben. Offenbar gibt es wiederum Menschen, die diese Zivilisationssplitter noch gebrauchen können. Oder in Moskau die Straßenkinder unter den Zellen der Polizeiwache, buchstäblich unterirdisch lebend, in den Röhren der Kanalisation nämlich, wie die Ratten. Eine Methode zur horizontalen Verknüpfung der Handlungsorte besteht im Benutzen von visuellen Codes, die quasi weitergereicht werden. Da sind zum einen die gestreiften Hemden, die in Bombay im Akkord zusammengenäht werden, um später sowohl in New York als auch in Mexiko City wieder aufzutauchen. Oder die Sache mit den Hühnern. Ein mexikanischer Straßenhändler bietet Küken für einen Peso feil und findet bei den Kindern der Ärmsten reißenden Absatz; in Bombay erlebt man die massenhafte Schlachtung von Hühnern, und wiederum aus Mexiko wird akribisch die Zubereitung von nicht gerade appetitlich aussehenden Snacks aus Hühnerfüßen beschrieben. Die Inszenierung flicht nicht zuletzt dank dieser Kunstgriffe ein enges Netz von Querverbindungen, die als tragfähige Struktur des Films fungieren.

Michael Glawogger (geb. 1957) war jahrelang ein enger Mitarbeiter von Ulrich Seidl (u.a. „Good News“, 1990, und „Tierische Liebe“, 1995), führte für ihn Kamera und schrieb Drehbücher. In vielen Punkten ähnelt sich die Filmsprache der beiden Künstler. Nach dem Spielfilm „Die Ameisenstraße“ (1995) und dem semidokumentarischen Episodenfilm „Kino im Kopf“ (1996) hat er nun erstmals eine wirklich originäre Arbeit vorgelegt, die ihn in die erste Liga europäischer Filmemacher katapultiert. Trotz seines ehrgeizigen ästhetischen Konzepts gerät ihm das eigentliche inhaltliche Anliegen nie außer Blick. Denn „Megacities“ stellt keineswegs eine kalte Konstruktion dar, die ihren Stoff lediglich als Vehikel für formale Spielereien benutzt. Aus jeder Einstellung spricht die Fassungslosigkeit über den Zynismus der ökonomischen Spielregeln, die von denjenigen, die sie gemacht haben, süffisant „Globalisierung“ genannt werden. Seit Robert Flahertys „Nanook of the North“ weiß man, daß es keinen objektiven Dokumentarismus gibt. Im Zeitalter der virtuellen Wirklichkeiten ist es um so folgerichtiger, offensiv mit dem Wirklichkeitsmaterial umzugehen. Wenn in New York die Tricks eines Ganoven im Rotlicht-Milieu nachinszeniert werden, ist dadurch die Wahrheit der tatsächlichen Umstände nicht weniger wahr. Im Grunde stellt Glawoggers Film eine Suche nach der Würde des einzelnen innerhalb totalitärer Entwürdigungsmechanismen durch Armut dar. Er führt Beispiele an, wägt ab, schlägt vor. Er liefert aber keine Erklärungsmodelle. Gerade durch seine extremen Stilisierungen ist er wahrhaftiger als manche puristische Dokumentation, die mit ihren politisch korrekten Weisheiten hausieren geht. Zu den Rolltiteln am Schluß des Films sieht man ein indisches Knabentrio emphatisch auf einer Müllkippe tanzen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
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