Les Misérables (1998)

Drama | USA 1998 | 133 Minuten

Regie: Bille August

Nach 19 Jahren schwerer Kerkerhaft erfährt ein entlassener Häftling in der Begegnung mit einem Bischof ungewöhnliche Güte, wodurch sich Haß und Verbitterung lösen und er sein Leben ändert. Er steigt zum wohlhabenden Bürger auf und lindert mit einer Manufaktur am Anfang des 19. Jahrhunderts die Not seiner Mitbürger. Als die Polizei hinter seine wahre Identität kommt, flieht er nach Paris, wo ihn zehn Jahre später während der Juli-Revolution 1832 seine Vergangenheit erneut einholt. Beachtenswerte Verfilmung des Hauptwerks von Victor Hugo, die sich auf die Auseinandersetzung der Gegenspieler konzentriert und vor allem in der ersten Hälfte durch eindringliche Bildkompositionen die Dialektik von Gesetz und Unrecht anklingen läßt. Trotz Zugeständnissen an den Massengeschmack eine bemerkenswert unzeitgemäße Auseinandersetzung mit der lebensverändernden Kraft des Herzens. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES MISERABLES
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Mandalay Entertainment/TriStar
Regie
Bille August
Buch
Rafael Yglesias
Kamera
Jörgen Persson
Musik
Basil Poledouris
Schnitt
Janus Billeskov Jansen
Darsteller
Liam Neeson (Jean Valjean) · Geoffrey Rush (Javert) · Uma Thurman (Fantine) · Claire Danes (Cosette) · Hans Matheson (Marius)
Länge
133 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Historienfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
VCL (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Victor Hugos monumentales Hauptwerk „Les Misérables“ (1845-1862) ist ein Gebirge, in dem sich schon mancher verlaufen hat. Obwohl es zu den „meistgelesenen Büchern der Weltliteratur“ zählt, verlangt die Lektüre des viele hundert Seiten umfassenden Konvoluts einen beträchtlichen Atem, um dem Schicksal der vier Hauptfiguren Myriel, Valjean, Fantine und Cosette durch die ausufernden Zeit- und Milieustudien des nachrevolutionären Frankreichs zu folgen. Daß man sich in Hollywood nach mehreren Stummfilmen und der Arbeit von Lewis Milestone („Legion der Verdammten“, 1952, fd 2 380) erneut des Klassikers angenommen hat, verdankt sich dem weltweiten Erfolg des gleichnamigen Musicals: Seit seiner Premiere (1985) wollten es mehr als 40 Millionen Zuschauer sehen. Die Wahl Bille Augusts als Regisseur signalisierte jedoch, daß man keine bloße Musicalversion, sondern eine eigenständige Fassung im Sinn hatte. Nach dem Drehbuch von Rafael Yglesias („Fearless“, fd 30 664) schuf der auf epische Stoffe spezialisierte Däne eine achtbare Variante, die sich unter den bald 20 Verfilmungen des Romans durchaus behaupten kann. August rückt dabei die Auseinandersetzung zwischen dem ehemaligen Galeerensträfling Jean Valjean und dem fanatischen Polizeiinspektor Javert in den Mittelpunkt und rafft insbesondere jene Kapitel des Pariser Juli-Aufstandes von 1832, die in früheren Adaptionen immer wieder die dramaturgische Einheit gefährdeten. Besonders in der ersten Hälfte gelingt es Bille August, mit den eindringlichen Bildern seines Kameramannes Jørgen Persson jeden Anflug des Kostümhaften zu vermeiden und jene Stimmungen zu beschwören, die den Nerv von Hugos Werk treffen: Armut, Elend, Hartherzigkeit – und die rare Güte des Herzens, die in keinen irdischen Bedingungen wurzelt.

Nach 19 Jahren schweren Zuchthauses quält sich Valjean wie ein räudiger Hund durch eine naßkalte, mitleidslose Landschaft. Nur im ärmlichen Haus des Bischofs von Digne erhält er Essen und ein Bett. Nachts reißen ihn Erinnerungen aus dem Schlaf. Verbitterung über die verlorenen Jahre – fünf für den Diebstahl eines Laibs Brot, 14 für Fluchtversuche – bemächtigt sich seiner. Er rafft das Tafelsilber zusammen und macht sich davon, um anderntags in Handschellen vor den Bischof geschleift zu werden. Doch Myriel ist aus einem anderen Holz geschnitzt und durchbricht den Teufelskreis von Not und Verbrechen: Mit der Mahnung, daß er fortan vom Bösen befreit und dem Guten überantwortet sei, schenkt er Valjean noch zwei schwere Silberleuchter – und löst damit ein seelisches Beben aus. Was sich in diesen knappen, wuchtigen Szenen zwischen Liam Neeson als zugrunde gerichtetem Sträfling und der forschen Dickköpfigkeit von Peter Vaughan andeutet, entfaltet sich nach einem mehrjährigen Zeitsprung in Montreuil-sur-Mer zum eindrucksvollen Vexier- und Zeitbild: Ein völlig veränderter Valjean hat es zu Reichtum und sogar zum Posten des Bürgermeisters gebracht, dessen Manufaktur die ärgste Not der Stadt lindert. Bis Javert auftaucht, einer der Aufseher aus Valjeans Gefängnis, jetzt in Diensten des Polizeiapparates. Geoffrey Rush verkörpert ihn mit der kalten Unnahbarkeit eines Extremisten, der seine Identität aus der kompromißlosen Überantwortung ans Gesetz bezieht. Während Bille August vor allem in den dumpf getönten Szenen des öffentlichen Zwischenspiels im Schicksal des bekehrten Valjeans die fragile Dialektik von Recht und Unrecht anklingen läßt, scheidet sich Javerts Welt in Menschen, die in Furcht vor dem Gesetz leben, und solche, die davon unbelastet sind: Verbrecher. Von psychischen oder sozialen Wurzeln des Bösen, von Umkehr oder gar dem Einbruch von Gnade will er keine Kenntnis nehmen. Als ihm Valjean ein Jahrzehnt später während der Pariser Barrikadenkämpfe das Leben rettet und er den inneren Wandel seines Gegenspielers nicht mehr leugnen kann, legt er sich Handschellen an und springt in die Seine – korrekt, ohne mit der Wimper zu zucken, einsam wie immer, nur des einzigen und letzten Haltes beraubt.

Von Augusts Regie eine Deutung dieses Todes zu erwarten – etwa als Akt existentieller Verzweiflung oder eines nackten Nihilismus –, hieße, die Grenzen dieser Inszenierung zu verkennen. Nicht nur in Gestalt von Uma Thurman als schwindsüchtige Fantine, die ihre Arbeit in Valjeans Fabrik verliert, als dort ihr uneheliches Kind bekannt wird, zollt August Tribut an den Massengeschmack. In der deutlich abfallenden zweiten Hälfte des Films, als Valjean zusammen mit Fantines Tochter Cosette zehn Jahre lang Unterschlupf in einem Pariser Nonnenkloster gefunden hat, mischen sich gängige Filmkonventionen und Revolutionsklischees, weicht auch die drückende Farbgestaltung einer folkloristischen Tönung, die aus Blut und blauem Pulverdampf die Trikolore des leidenden Volkes webt. Der Zweikampf zwischen Gesetz und Güte tritt notgedrungen auch zugunsten des Romans in den Hintergrund, in dem die politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen während des Bürgerkönigtums Louis Phillipes breiten Raum einnehmen und in der Romanze zwischen Cosette und dem Revolutionär Marius ihre erzählerische Fokussierung finden. Doch trotz solcher Einschränkungen fasziniert Augusts Entschlossenheit, mit der er die vielfältigen Stränge zu einem, wenn auch etwas lang geratenen Drama vereint und dabei Hugos zentrales Thema in eine moderne Filmerzählung übersetzt: die Überzeugung, daß nicht allein die Macht der Verhältnisse das Schicksal von Menschen bestimmt, sondern auch die Kraft des Herzens einen Charakter formen kann. Hinter dem nicht weiter erläuterten kometenhaften Aufstieg des Galeerensträflings zum wohlhabenden Bürger schimmert in Bille Augusts und Liam Neesons Deutung immer wieder ein Wissen um Glück, Gunst oder Gnade durch, deren lebensverändernde Wirkung Valjean in einer altmodischen Weise fast demütig macht, ohne seine Selbstbehauptungskräfte zu untergraben. Der Provokation einer solch unzeitgemäßen Fabel kann man sich nur schwer entziehen.
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