Barracuda - Vorsicht Nachbar!

Drama | Deutschland/Frankreich/Belgien 1997 | 94 Minuten

Regie: Philippe Haïm

Ein junger Franzose wird von seinem Nachbarn zum Diner eingeladen. Der spleenige ältere Herr, der Steptanz liebt, Fred Astaire imitiert und mit einer Schaufensterpuppe als "Ehefrau" lebt, entpuppt sich als grausamer Psychopath, der den Gast gefangen nimmt und nie mehr gehen lassen will. Klaustrophobisches Kammerspiel um Einsamkeit und Isolation, das durch seine filmische Virtuosität ebenso fasziniert wie sein Psychoterror in Bann schlägt. Vor allem durch seine subtilen Farbstilisierungen läßt der komplexe Film eine Reihe von filigranen Lesarten zu. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BARRACUDA
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Horizon Prod./France 3 Cinéma/Gemini Filmprod./Era Films
Regie
Philippe Haïm
Buch
Philippe Haïm · Nicolas Lartigue · Patrick Olivier Meyer
Kamera
Jean-Claude Thibaut
Musik
Philippe Haïm
Schnitt
Magali Ollivier · Philippe Haïm
Darsteller
Jean Rochefort (Clément) · Guillaume Canet (Luc) · Claire Keim (Margot) · Rose Thierry (Madame Duprès)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Durch die Linse des Türspions erscheint die Welt seltsam verzerrt: Die Ränder verschwimmen, das Zentrum dehnt sich nach vorn. Für Clément, einen älteren Herrn, genügt ein gelegentlicher Blick, um entschlossen die Messingklappe wieder einrasten zu lassen. Still zieht er sich dann in seine exquist möbilierten Gemächer zurück, klopft sorgsam sein Frühstücksei auf und übt englische Konversation. Vielleicht hätte sein neuer Nachbar Luc nicht bei ihm klopfen oder ihn wenigstens zur Einweihungsparty bitten sollen. Statt dessen vergißt der junge Comic-Zeichner Cléments Einladung zum Diner und wird zehn Minuten nach Acht mit Nachdruck zu Tisch komplimentiert. Dort allerdings verschlägt es ihm die Sprache: Die Dritte im Bunde ist Cléments Frau Violette – eine Schaufensterpuppe im Abendkleid. Das Gespräch gestaltet sich entsprechend schleppend, auch weil der freundliche Monsieur die „Äußerungen“ seiner Gemahlin soufflierend kommentiert. Als Luc sich heimlich aus dem Staub machen will, findet er die Tür verriegelt. Stunden später erwacht er benommen, geknebelt und an ein Waschbecken gefesselt, während Clément ihn seelenruhig nach seinen Speisewünschen fragt. Ein Handgemenge endet mit einer Gabel in seinem Bein, ein Wutanfall mit dem Feuerlöscher auf seinem Kopf. Alles Bitten und Betteln nützt nichts: Luc ist zu Cléments „Freund“ geworden – und „Freunde teilt man nicht“.

Was wie eine melancholische Studie über Alterspleenigkeit beginnt, kippt unversehens in ein bedrängendes klaustrophobisches Kammerspiel, das sich allen gängigen Kategorisierungen entzieht. Das Regiedebüt des 32jährigen Franzosen Philippe Haïm läßt sich am ehesten als ausgeklügelte CinemaScope-Etüde in Rot und Blau beschreiben, die durch ihre Virtuosität ebenso fasziniert wie ihr abgründiger Psychoterror in Bann schlägt. Mit wenigen prägnanten Bildern wird Clément als distinguierter Privatier eingeführt, dessen labyrinthische Wohnung voller Fred-Astaire-Devotionalien hängt, den er bis zur Verwechslung imitiert. Sein Wahnsystem enthüllt sich nur langsam, weil die brachiale Gewalt, mit der er Luc zu seinem Gefangenen macht, nicht zu seinem freundlichen Äußern passen will. Auch bleibt die „Beziehung“ zu Violette, die im psychischen Ringen der beiden Männer eine zentrale Rolle spielt, zu undurchsichtig, als daß sie eindeutig als Psychose zu durchschauen wäre. Von Luc dagegen weiß man nicht viel mehr, als daß sein Geliebte schwanger ist und er alles daran setzt, sich aus seinem Kerker zu befreien. Clément hat ihn in einem fensterlosen, neonroten Raum wie einen Hund an die Kette gelegt und bekämpft seinen Widerstand mit einer Mischung aus väterlichem Liebeswerben und drakonischen Strafen. Während Luc in der Isolationszelle am Rande des Wahnsinns laviert und sich auf ein gefährliches Doppelspiel mit „Violette“ einläßt, steppt der von Jean Rochefort grandios verkörperte Clément im bläulichen Dämmerlicht als Astaire-Double und versucht, die Widerstände seiner „Frau“ auszuräumen, die Luc gegenüber merklich reserviert bleibt. Als Kern von Cléments grausamer Obsession enthüllt sich im heftigen Schlagabtausch der Kontrahenten nach und nach die schleichende Gewöhnung an das Gift der Einsamkeit, dem sich auch Luc am Ende seiner neunmonatigen Gefangenschaft nicht mehr erwehren kann.

Unter der schillernd-bizarren Oberfläche ist „Barracuda“ ein hochkomplexes Werk, dessen ausgeklügelte Gestaltung viele Lesarten möglich macht. Geschickt versteht es Haïm, die Geschichte so zwischen Psychothriller, Horrortrip und grotesker Farce anzusiedeln, daß die Genre-Elemente zwar greifbar bleiben, aber nie dominant werden. Mit großer Energie und überraschendem Erfolg nützt er das Breitwand-Format, um entsprechende Stimmungen zu erzeugen, bricht sie aber meist nach kurzem wieder auf. Dabei verblüfft vor allem die subtile Farbstilisierung, die Haïm meisterhaft handhabt: von düster-geheimnisvollen Tönen im langen Eingangsflur, zwischen Magie und Mattigkeit oszillierenden Blauschattierungen als Signal für Einsamkeit und Isolation bis zu den Glitzerfarben des Showgeschäfts und dem Plüschrot im Kerker, das an einen Puff ebenso denken läßt wie an eine Sado-Maso-Zelle. Bezeichnenderweise ist das hinter einer Bücherwand verborgene Zimmer ab dem Moment in kaltes Blau getaucht, an dem Lucs Widerstand gebrochen ist und er die Rolle von Cléments Sohn annimmt: eine gespenstische Metamorphose, die von der sexuell konnotierten Begehrlichkeit zur Geburt eines domestizierten „Nachkommen“ führt. Da Haïm immer wieder auch auf filmtechnische Details wie Linsen, Kameras oder den Projektorstrahl im Kino rekurriert und die Astaire-Idolatrie als Hintergrundfolie wählt, drängt sich auch eine Reflexion über das cineastische Suchtpotential auf. Weil dabei aber kein Element in den Vordergrund drängt, wahrt der Film über die enigmatische Schlußsequenz hinaus eine Rätselhaftigkeit, die dem brillant fotografierten Werk eine nachhaltige Beachtung sichert.
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