Vive la Provence - Ein Jahr in Espigoule

- | Frankreich 1999 | 96 Minuten

Regie: Christian Philibert

Ein Jahr im Leben eines Dorfs in der südfranzösischen Provence. Der inszenierte Dokumentarfilm stellt Sonderlinge und Besonderheiten vor, denunziert seine Protagonisten jedoch in keinem Augenblick, sondern stellt sie in den Mittelpunkt einer menschlichen Komödie, die das Leben, die Menschen und ihre Traditionen feiert. Ein in allen Belangen überzeugender Film, zudem von großem Unterhaltungswert. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES QUATRE SAISONS D'ESPIGOULE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Lardux/Cedolozo/VBC
Regie
Christian Philibert
Buch
Hervé Philibert · Christian Philibert
Kamera
Christian Pfohl
Musik
Michel Korb
Schnitt
Stéphane Elmadjian
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Ein Wermutstropfen ganz zu Anfang: Das Dorf Espigoule existiert nicht. Zwar gibt es seine Bewohner, seine Rituale und Bräuche, doch auf der Landkarte wird man diesen provencalischen Flecken vergebens suchen. Mit der Verschleierungstaktik, mit der Regisseur Philibert die mitunter verschrobenen Bewohner seines Heimatortes auch vor sich selbst schützen will, wird auch der Begriff des Dokumentarfilms in Frage gestellt. „Die Inszenierung der Wirklichkeit“ würde diese Art des Filmemachens besser beschreiben. Zehn Jahre hat Philibert sein Dorf und das Verhalten der Einwohner beobachtet, das Videomaterial im Café später öffentlich gemacht. Man einigte sich auf Fixpunkte, die nachgestellt werden sollten, und reale Ereignisse, die den Rahmen des Fiktiven sprengen. Das Ergebnis ist die Dramatisierung des Tatsächlichen, die viel mehr über das Leben und die Lebenshaltungen der Menschen aussagen kann als die pure Dokumentation. So wird unter der flirrenden Sommersonne Südfrankreichs der Geist Marcel Pagnols ebenso beschworen wie das „Schützenfest“ eines Jacques Tatis, dem gleich mehrere Zitate gewidmet sind.

Nur, darf man Wirklichkeit fiktionalisieren? Man darf, wenn das Ergebnis ein solch bezaubernder Film ist, der an die Schnittstellen menschlichen Zusammenlebens heranführt und dessen Zauber erhellt. Plötzlich haben alle Platz und Berechtigung: die Sprücheklopfer, Spinner und Sonderlinge, die Großmütter, die das Geschehen von der Bank auf dem Dorfplatz eher gelassen kommentieren, die Provinzpolitiker mit ihren verschrobenen Ideen, die Kneipengänger und Boule-Spieler, die erdverbundenen Künstler, die ihrer Farbe Heimaterde beimischen, und die Gelegenheitspoeten, die ihre Vorträge auch dann noch fortführen, wenn sie mit Schneebällen oder Steinchen beworfen werden. Philibert hat seinen Film dem Jahreskreis untergeordnet, wobei er im Herbst beginnt, mit der Jagdsaison. Hier frönen die Männer ihrer Leidenschaft, während es den Frauen obliegt, am traditionellen Hasenpfeffer-Wettbewerb teilzunehmen. Der Winter bietet Sylvester und Karneval, das Frühjahr das legendäre Ziegenbockrennen, im Sommer finden Hochzeit und Wahlkampf statt, wobei sich bei letzterem der Favorit durchsetzt, während der Bräutigam an seinem Festtag mit Problemen mit seinem Stiftzahn zu kämpfen hat, der während der Feier schon einmal verloren geht und zu fortgeschrittener, alkoholisierter Stunde doch noch erfolgreich eingesetzt werden kann.

Ein Dokumentarfilm als menschliche Komödie, der nichts fremd ist und die ein Stück Gallien vorführt, an dem Asterix und Co. sicher ihre Freude hätten. Im Film wie im klischeeprägenden Comic haben Frauen zwar wenig zu sagen, doch was sie sagen, hat Hand und Fuß und setzt sich vom Schwadronieren der männlichen Käuze ab. Philiberts Film ist geprägt von einem großen Unterhaltungsanspruch, der im Genre seinesgleichen sucht; ein Film von charmanter Leichtigkeit, der wie ein Bindeglied zwischen Robert Flahertys „inszeniertem“ Dokumentarfilm „Nanuk der Eskimo“ und Tatis dokumentarischer Komödie „Tatis Schützenfest“ daherkommt und deren Tugenden vereint. So wird Espigoule zu einem Weltdorf, zum Inbegriff von Heimat und Bodenständigkeit, in dem eine Zahnbehandlung im Café ebenso alltäglich ist wie die Beschwörung eines Sonnenuntergangs. Espigoule existiert zwar nicht, und ebenso darf die Wirkung des magischen, potenzsteigernden Honigs angezweifelt werden, doch das ist noch lange kein Grund, sich der Baskenmütze oder seiner Träume zu entledigen - es gibt viele Espigoule in unseren Träumen, Wünschen und Idealvorstellungen. Wer genau hinschaut, wird jeden Tag ein kleines Stück von dieser Idylle entdecken können, es liegt an uns, sie zu kultivieren. Es ist auch die Hoffnung auf ein Leben in lebenswerten Zusammenhängen, die „Vive la Provence“ so einzigartig macht, eine Beschwörung der Tradition, ohne in ihr zu erstarren; das Leben als Spiel, dessen Regeln sich von Tag zu Tag modifizieren, ein Film, der genau so dahinfliegt wie die schönen Stunden im wirklichen Leben.
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