Verzweiflung - Liebe bis unter die Haut

- | Deutschland 2000 | 74 Minuten

Regie: Marcus Lauterbach

In einem Mietshaus begegnen sich ein Mann und eine Frau, die beide eben erst eingezogen sind. Aus einer vermeintlich rein sexuellen Liaison entwickelt sich bald eine Nähe, die allerdings unter dem Schweigen der zutiefst verzweifelten Frau leidet, die kein Wort über ihre Vergangenheit verliert, in der sie große Schuld auf sich lud. Leises, eindringliches Drama über Einsamkeit, Isolation und Schuld, das auf schattenreiche Hell-Dunkel-Kontraste und atmosphärische Verschiebungen setzt und sich bei der Entfaltung der geschickt konstruierten Erzählung auf überzeugende Darsteller verlassen kann.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Jost Hering Filmproduktion/ZDF
Regie
Marcus Lauterbach
Buch
Marcus Lauterbach
Kamera
Roland Dressel
Musik
Klaus Doldinger
Schnitt
Monika Schindler
Darsteller
Nina Petri (Ulrike) · Sylvester Groth (Sigs) · Andrea Sawatzki (Anna) · Christine Schorn (Mutter von Ulrike) · Dieter Schaad (Vater von Sigs)
Länge
74 Minuten
Kinostart
-
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Diskussion
Seitdem sich der Anteil der Besucher, die deutsche Filme im Kino sehen wollen, wieder einigermaßen verlässlich zwischen zehn und zwanzig Prozent eingependelt hat, partizipieren mitunter auch gewagteren Filme am neuen Aktienkapital oder den öffentlichen Fördertöpfen. Experimentelle Werke hingegen oder solche, die sich abseits gängiger Erwartungen bewegen, sind nach wie vor auf die Unterstützung von Idealisten angewiesen, wie sie in den Nischen der Fernsehsender oder auch bei kleinen Verleihern immer noch zu finden sind. Marcus Lauterbachs strenge Schwarz-Weiß-Studie über eine Frau, die den Boden unter den Füßen verloren hat, wäre ohne „Das kleine Fernsehspiel“ wohl nie über das Projektstadium hinaus gelangt; so sehr widerspricht allein der Plot allem, was derzeit Aufmerksamkeit und Erfolg garantiert. Erst recht hätte der Verzicht auf Farbe alle Türen ins Schloss fallen lassen, obwohl das leise, fast wortlose Drama alles Wesentliche über schattenreiche Hell-Dunkel-Kontraste und nuancierte Grautöne zum Ausdruck bringt. So lassen sich beispielsweise die wenigen Szenen der unspektakulären Eröffnungssequenz auf verbalem Weg nur sehr grob skizzieren, weil es lediglich am Rande auf den Informationsgehalt, ganz entschieden aber auf den subtilen Wechsel der Atmosphären ankommt. Die Kamera streift an einer Gruppe spielender Kinder vorbei und bleibt an einer Frau im hellen Mantel hängen, die im Hintergrund einen zögernden Blick auf die Kinder wirft und dann eilig im Hauseingang verschwindet. Offensichtlich ist sie gerade eingezogen: in sparsam möblierten Zimmern türmen sich Umzugkartons. Genaueres erfährt man nicht, obwohl die Frau zwei Telefonate führt; es geht um Schlüssel und den Zuspruch, dass Gott ihr verzeihen wird; die minimalistische Musik evoziert eine Stimmung zwischen Schwermut, Lethargie und Verhängnis. Draußen scheint die Sonne. Als die Frau auf den Balkon tritt und mit wächsernem Gesicht ins milde Licht blinzelt, hört sie die Kinder, erschrickt und zieht sich fluchtartig wieder in die Wohnung zurück. Nach wie vor flutet Licht herein, doch die Fenster sind jetzt blind, das Zimmer ein abgeschotteter Innenraum. Auf solchen atmosphärischen Verschiebungen fußt das meiste, was der Film erzählen will. In der Wohnung nebenan zieht ein Mann ein, der gerade seine Frau und seinen Sohn verlassen hat, ebenfalls kein sehr gesprächiger Mensch. Sein Annäherungsversuch ist unbeholfen und direkt; der unvermittelte Sexualakt ein verkrampftes Stück Arbeit. Doch es bleiben zwei Namen, Ulrike und Sigs, die konturiertesten Leerstellen in den diffusen Räumlichkeiten. Die Abmachung, „kein davor, kein danach“, funktioniert allerdings nur beim ersten Mal; die Wärme der Körper lässt bald Nähe wachsen, eine kaum eingestandene Intimität, die sich an der ostentativ aufrecht erhaltenen Fremdheit reibt. Da vor allem Ulrike über sich und jene Erlebnisse die Auskunft verweigert, die wie Blei auf ihr lasten, bleiben Konflikte nicht aus.

Nina Petri verleiht der von ihr gespielten Figur eine so starke Plastizität, dass sich deren innere Widersprüche auch ohne verbale Erläuterung erschließen. Wie diese Frau sich mit jeder Faser ihres Herzens nach Vertrauen und einem Ort sehnt, wo sie ihren kalten, unnahbaren Schutzpanzer abgelegt kann, im nächsten Augenblick aber alles daran setzt, mit verhärteten Zügen jeden Brückenschlag wieder einzureißen, unterstreicht der Film durch seine kontrastreiche Lichtsetzung und das Spiel mit Unschärfen, die Personen und Situationen ins Diffuse tauchen, während sich in anderen Einstellungen Gesichter oder andere körperliche Details gestochen scharf abzeichnen. „Verzweiflung“ ist trotz seines Themas und kleinen expressionistischen Anleihen ein Film der leisen Töne, der durch seine geschickte Dramaturgie – auch der Zuschauer erfährt die Hintergründe erst spät und auch dann nur in Andeutungen - die Aufmerksamkeit auf einen Menschen lenkt, der einem nahe kommt und doch lange fremd bleibt. Die Geduld des Films mit seinen Protagonisten schafft Raum für eine Vielzahl von Wahrnehmungen, die sich zwar unter dem Titel, aber nicht unter wohlfeile Begriffe subsumieren lassen. Dass er am Ende nicht der Verzweiflung das letzte Wort einräumt, braucht deshalb auch nicht als Happy End missverstanden werden: der kämpferische, lebensbejahende Zug, der gegen die isolierenden Tendenzen schließlich die Oberhand gewinnt, war in Ulrikes Persönlichkeit deutlich wahrzunehmen. Der Kinodebüt besticht durch seinen erzählerischen Mut und das intensive Spiel der beiden Hauptdarsteller, wodurch kleine Ungenauigkeiten und Holprigkeiten kaum ins Gewicht fallen. Als ambitionierter Versuch über die lähmende Wirkung existenzieller Angst- und Schuldgefühle gelingt Lauterbach, woran seine Protagonisten leiden: (bildhafte) Ausdrucksweisen zu finden, wo die traditionellen Wege der Kommunikation nicht mehr greifen.
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