Die Diebin von Saint Lubin

- | Frankreich 1999 | 78 Minuten

Regie: Claire Devers

Eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder stiehlt im Affekt und aus Not in einem Supermarkt Fleisch und wird erwischt. Beim ersten Prozess spricht eine verständnisvolle Richterin sie frei; in einem zweiten Verfahren fühlt sie sich von der ultrarechten Partei, die sie gewählt hat, ebenso ausgenutzt wie von den Medien, und außerdem von allen missverstanden. Politischer Themenfilm nach einer wahren Begebenheit, der niemanden und zugleich jeden indirekt anklagt. Spannend und präzise inszeniert, getragen von einer glänzenden Hauptdarstellerin. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA VOLEUSE DE SAINT LUBIN
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Agat Films/La Sept Arte
Regie
Claire Devers
Buch
Claire Devers · Jean-Louis Benoît
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Béatrice Thiriet · Armand Amar
Schnitt
Marie Castro-Vazquez · Monica Coleman
Darsteller
Dominique Blanc (Françoise Barnier) · Denis Podalydès (Anwalt) · Michelle Goddet (Richter Davray) · Maryline Even (verhüllte Frau) · Chantal Neuwirth (Sozialarbeiterin)
Länge
78 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Ein politischer Auftragsspielfilm: bei Arte gab beziehungsweise gibt es solches tatsächlich. Für die Reihe „Droite/gauche“ (rechts/links) drehte Claire Devers 1999 „Die Diebin von Saint Lubin“ nach einer wahren Begebenheit: Die Tragödie einer minderbemittelten Mutter, die Lebensmittel stiehlt – quasi in der Nachfolge von Jean Valjean aus Victor Hugos „Les misérables“. Weil sie ihren Kindern nicht jeden Tag Nudeln vorsetzen will, sondern auch mal Proteine, stiehlt Françoise Barnier, 36, alleinerziehend und Reinigungsfrau in einer Fabrik mit 4500 Francs (750 Euro) Einkommen im Monat, an einem Tag gleich in drei Supermärkten Fleisch im Wert von 1500 Francs (250 Euro). Sie wird geschnappt, einer der Geschäftsführer der Supermärkte zeigt sie an. Eine links eingestellte Richterin aber spricht sie frei, wegen Mundraubs, also wegen Bedürftigkeit. Als der Fall jedoch landesweit bekannt wird, weil ein Bericht in „Le Monde“ erscheint, rollt die Staatsanwaltschaft das Verfahren neu auf, zumal die rechtsextreme Front National (FN) die Vorfälle aufgreift, nach dem Motto: eine arme Französin muss stehlen, während viele Ausländer in Frankreich in Saus und Braus leben. Tatsächlich erlebt man, wie Françoise nach ihrem Freispruch die Ultrarechten wählt. Aber als sie in deren Büro geht, weil sie sich Hilfe für das neue Verfahren erhofft, spürt sie schnell, dass sie nur für deren politische Ziele ausgenutzt werden soll. Die Ausländer seien an ihrer Misere nicht Schuld, sagt Françoise, verlässt empört das Parteibüro und entfernt alle Flugblätter der Partei aus den Briefkästen in ihrem großen Mietshaus. Aber auch von ihrem Pflichtverteidiger fühlt sie sich missverstanden, rät der ihr doch, lieber mit ungedeckten Schecks oder gar nicht zu zahlen, weil dafür jeder mehr Verständnis habe als für einen Diebstahl im Supermarkt. Er rät ihr auch, lieber arbeitslos zu werden, dann bekäme sie mehr staatliche Unterstützung als jetzt, da sie gerade so viel wie das Existenzminimum verdient. Doch oft reicht das Geld nicht einmal für eine kleine zusätzliche Ausgabe; wäre ihr Auto nicht liegengeblieben, mit dem sie zur Arbeit fährt, hätte Françoise wohl auch nicht versucht, Geld einzusparen und zu stehlen. Denn von klein auf hat sie gelernt, dass man seine Würde verliert, wenn man Schulden macht. Deshalb führt sie über alle Ausgaben penibel Buch und legt es auch dem Gericht vor. Im zweiten Verfahren wird sie –von einem Law-and-Order-Mann – zu 3000 Francs (500 Euro) Strafe verurteilt. Aus der kleinen Geschichte macht Claire Devers ein packendes Drama, das zwischen Spiel- und Dokumentarfilm oszilliert. Ihr Kunstgriff besteht darin, niemanden direkt anzuklagen, weder den Staat und seine Richter noch die Front National (der Name fällt nie, aber man weiß, wer gemeint ist); erst recht nicht die junge Mutter mit dem falschen Stolz, die sich ein einziges Mal nicht beherrschen konnte und sich nun, aus Angst, im Fernsehen erkannt zu werden, nur noch mit einer Tüte über dem Kopf aus dem Haus traut. Es geht weder um Recht noch um Gerechtigkeit, sondern um eine Politik, die es zulässt, dass Menschen am Rande des Existenzminimums leben, auch im reichen Frankreich. Ein unbeliebtes Thema, selbst in Frankreich, wo sozialkritische Filme häufiger gedreht werden als beispielsweise in Deutschland. Aber „Die Diebin von Saint Lubin“, in Reims als bester französischer Fernsehfilm prämiert, kam wider Erwarten nicht ins Kino; statt dessen lief er im Forum der „Berlinale“ und ist jetzt mit einer Verspätung in deutschen Programmkinos zu sehen. Klar und zügig, ohne Schnörkel inszeniert, ein bisschen in der Tradition von Robert Bresson, ist es auch die starke Präsenz von Dominique Blanc, die den Film so glaubwürdig macht. Sie ist beileibe keine Schönheit, und mit ihren großen Augen und ihren schnellen einfachen Worten verkörpert sie genau jene Mischung aus Naivität, Treuherzigkeit, Verzweiflung und Aktionismus, die eine einfache Frau in dieser misslichen Lage wohl haben muss. Wenn man Blanc als fürsorgliche Mutter mit ihren Kindern erlebt oder immer wieder als Reinigungsfrau mit großem Wasserschlauch in der Fleischfabrik hantieren sieht, ohne Aussicht, dass sich das Leben bessert, dann erinnert das auch ein wenig an „Rosetta“ (fd 34 825), den Cannes-Sieger von 1999. Devers inszeniert ihren Film, einen Fall von sozialer Härte und stummer Gesellschaftskritik, der sich so oder so ähnlich in jedem europäischen Land zutragen könnte, keineswegs aufgesetzt, sondern mit einer natürlichen Direktheit, der man sich kaum entziehen kann.
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