Meine Schwester (2001)

Coming-of-Age-Film | Frankreich/Italien 2001 | 95 Minuten

Regie: Catherine Breillat

Zwei äußerlich sehr unterschiedliche jugendliche Schwestern, die eine ebenmäßig, die andere dick, werden in den Sommerferien mit sexuellen Erwartungen und Erlebnissen, mit Verführung, Überrumpelung und männlicher Gewalt konfrontiert. Bis zum schockierenden Schluss bildet der Film den Erfahrungshorizont seiner beiden Heldinnen psychologisch genau, mit sensiblen, mitunter metaphorischen, nie aber voyeuristischen Bildern und einer unaufgeregten Montage ab. Ein Selbstversuch über die weibliche Psyche, dessen Stärke nicht zuletzt im Spiel der beiden jungen Hauptdarstellerinnen liegt. - Ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
A MA SOEUR!
Produktionsland
Frankreich/Italien
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Flach Film/CB Films/Centre National de la Cinématograhie/Immagine e Cinema/Le Studion Canal +/Urania/arte France Cinéma
Regie
Catherine Breillat
Buch
Catherine Breillat
Kamera
Giorgos Arvanitis
Musik
Vincent Arnardi · Salim Amrani
Schnitt
Pascale Chavance
Darsteller
Anaïs Reboux (Anaïs Pingot) · Roxane Mesquida (Elena Pingot) · Libero de Rienzo (Fernando) · Arsinée Khanjian (Mutter) · Romain Goupil (Vater)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 18.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama

Diskussion
In ihrem Debütfilm „Une vraie jeune fille“ (1976), der in Frankreich über 20 Jahre lang verboten war, erzählte die Autorin und Regisseurin Catherine Breillat vom Sommerurlaub des Mädchens Alice, und zwar aus der extrem subjektiven Sicht der Hauptfigur, als Tagebuch der erhofften und zugleich gefürchteten Defloration. Die Frage, die der Film stellte, war, wie eine von den überforderten Eltern unvorbereitete, in den Fallstricken der Pubertät gefangene Kindfrau mit dem plötzlichen körperlichen Reifeprozess, dem rational nicht erfassbaren Verlangen umgeht, und welche Träume und Albträume dessen Unterdrückung gebären kann. Breillat füllte ihren Film mit surrealen Motiven, die an bestes Underground-Kino, an Klassiker von Buñuel bis Jodorowsky erinnerten. Wenn Alice mit roten Schuhen an einem mit Müll bedeckten Strand entlang läuft und schließlich ihren Slip auf das Skelett eines toten Hundes wirft, verschmelzen Lust und Verwesung zu einer einzigartigen Metapher. Der Film, mit wenig Geld als Außenseiterproduktion gedreht, war ein Kompendium von Szenen, die sich bei aller Lust an der Provokation durchaus ernsthaft darum bemühten, Unterbewusstes sinnlich zu erfassen. Genau diesen Selbstversuch über die weibliche Psyche wagt Catherine Breillat in ihren Filmen bis heute – und trotz mancher Anfeindungen unerschrocken. Man denke nur an jene Sequenz aus ihrem zum „Skandal“ erklärten Opus „Romance“ (fd 34 299), in dem sich Marie, die schöne junge Lehrerin, zweigeteilt sieht: Geist und Fleisch, Kopf und Unterleib durch eine rote Wand getrennt. „Meine Schwester“ kommt dagegen vergleichsweise harmlos daher – zumindest auf den ersten Blick. Wieder beschreibt Breillat einen Sommerurlaub und erste sexuelle Erfahrungen junger Mädchen. Diesmal sind es zwei sehr unterschiedliche Schwestern, deren gegenseitige Hassliebe ausführlich zelebriert wird. Denn während die 15-jährige, schlanke Elena (Roxane Mesquida mit einem Gesicht wie die junge Romy Schneider) die Aufmerksamkeit der Männer ohne jede Anstrengung gewinnt, trägt ihre drei Jahre jüngere Schwester Anais schwer an ihren Pfunden. Die Eltern haben sie zu einer Anstandsdame für Elena bestimmt, in der trügerischen Hoffnung, das gemeinsame Auftauchen der Beiden würde jeden Mann abschrecken. Genau so falsch ist ihre Ansicht, dass sich in Anais keinerlei erotisches Verlangen regen würde. Der Film zeigt das Gegenteil, und er führt es in empfindsamen, unspektakulären, psychologisch genauen Szenen vor: Das beginnt mit dem Lied über die tödliche Langeweile, mit dem Anais ihren Gefühlen Ausdruck verleiht, und setzt sich fort mit einer Sequenz am Swimmingpool, in dem das Mädchen erst den Griff einer Leiter liebkost, um sich gleich darauf, ebenso zärtlich, einem Holzpfeiler zuzuwenden. Schon zuvor hatten die Schwestern vertraulich über jene Umstände philosophiert, die sie beim ersten Sex bevorzugen: Während Elena, die sich „reif“ glaubt, aber tatsächlich reichlich naiv ist, darauf besteht, dass dabei unbedingt Liebe im Spiel sein müsse, wiegelt Anais ab: „Das erste Mal muss es neutral sein. Wenn ich verliebt bin, möchte ich schon eingeweiht sein.“ In solchen intimen Momenten wird die trotz aller äußeren Unähnlichkeit starke Nähe der Schwestern deutlich. Auch später unterstreicht die Regisseurin das Wechselspiel von Distanz und Zuneigung, so, wenn sie Anais und Elena gemeinsam in den Spiegel blicken lässt: „Wenn ich Dich ansehe, habe ich das Gefühl, zu Dir zu gehören.“ – „Und wenn ich Dich hasse, habe ich das Gefühl, ich hasse einen Teil von mir.“ Die Brillanz der Regie und die ebenbürtige Kameraarbeit von Yorgos Arvanitis, die solche Sequenzen gerade durch eine scheinbare Kunstlosigkeit zu Höhepunkten des Films macht, hatten sich schon in der Einstellung zuvor manifestiert: Während sich Elena und ihr Liebhaber in den Dünen vergnügen, legt sich Anais unter einen an Land gespülten, verdorrten Baum. Schwester und Freund beugen sich als Schatten über sie, blicken stumm, wie aus einer anderen Welt – nämlich der der Erwachsenen – auf sie herab. Eine starkes Bild, das keiner Worte bedarf. Im Gegensatz zu vielen deutschen Teenie-Lustspielen, in denen es ums „erste Mal“ geht, nimmt Catherine Breillat ihre Figuren und deren seelische Konflikte ernst. In keiner Szene wird die dicke Anais der Lächerlichkeit preisgegeben, aber auch nicht dem Mitleid, das sie dank eines ausgeprägten Selbstbewusstseins auch gar nicht nötig hat. Nicht einmal als Zeugin jener Nacht, in der ihre Schwester den heimlichen Besuch eines italienischen Studenten empfängt. Hier ist es eher die in sexuellen Dingen vermeintlich erfolgreichere Elena, die Mitgefühl hervorruft: Schließlich fällt sie auf die Schwüre des Jungen herein, die nur Mittel zum Zweck sind, endlich den sexuellen Akt zu vollenden. Natürlich kreist diese 20 Minuten lange, beinahe langweilige, jedenfalls unaufgeregt montierte und nie voyeuristisch gefilmte Sequenz (der Beischlaf findet schließlich im Off statt) auch um das Thema Scham und Schuld; und lässt am Ende die Frage offen, ob die Liebesschwüre des jungen Mannes auch etwas mit Nötigung, ja sogar mit einer „sanften“ Vergewaltigung zu tun haben könnten. Eine solche Perspektive auf Elenas erste Liebesnacht wird mit dem abrupten, düsteren Schluss des Films durchaus suggeriert. Ein angeblicher Liebesbeweis des Jungen – der von ihm entwendete Ring seiner Mutter – führt direkt in die Katastrophe. Während Anais und Helenas nervöser, gereizter Vater längst wieder zur Arbeit entschwunden war, reisen nun auch Mutter und Töchter überstürzt aus dem Urlaub ab. Catherine Breillat zeigt deren Wagen auf der Autobahn zwischen lauter LKW, die als Metaphern für männliche Bedrohung verstanden werden können. In der Tat werden die Frauen während einer nächtlichen Rast überfallen. Zwei von ihnen bezahlen das mit dem Tod, Anais wird vergewaltigt. Das Ziel, das „erste Mal“ zu erleben, haben die Schwestern erreicht, doch in beiden Fällen durch Überrumpelung und Gewalt. Der Zuschauer wird an dieser konstruierten Parallelität schwer zu schlucken haben. Catherine Breillat hat ihr Kino der Widerhaken und Provokationen jedenfalls noch immer nicht gegen Harmonie und Bravheit eingetauscht.
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