Die Sammler und die Sammlerin

Dokumentarfilm | Frankreich 2000 | 82 Minuten

Regie: Agnès Varda

Die französische Filmemacherin Agnès Varda fährt mit einer digitalen Kamera durch Frankreich und filmt Menschen, die aus Not, Leidenschaft oder nur zufällig Dinge aufsammeln, die andere weggeworfen haben. Altersweises Doku-Essay, filigran und vielschichtig, das Bilder vom Rande der Gesellschaft mit sensiblen Reflexionen über das Alter und den Tod, das Filmemachen und die Fantasie verbindet, ohne darüber schwermütig zu werden. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik; Fortsetzung: "Zwei Jahre danach", 2002) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES GLANEURS ET LA GLANEUSE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Ciné Tamaris
Regie
Agnès Varda
Buch
Agnès Varda
Kamera
Stéphane Krausz · Didier Rouget · Didier Doussin · Pascal Sautelet · Agnès Varda
Musik
Joanna Bruzdowicz
Schnitt
Agnès Varda · Laurent Pineau
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
So verspielt und hintersinnig, wie der Titel von Agnès Vardas altersweisem Doku-Essay im Deutschen klingt, ist sie selbst: eine jung gebliebene Autorenfilmerin (Jahrgang 1928), die im Spiegel der Kamera ihren grauen Haaransatz erforscht und die faltigen Hände als Zeichen dafür nimmt, dass ihr Leben bald zu Ende geht, einen Augenblick später aber energisch „bon“ ruft und sich ins nächste Abenteuer stürzt. Über den Anlass ihrer filmischen Spurensuche entlang Frankreichs Straßen nach Menschen, die aus Not, Leidenschaft oder auch nur zufällig Dinge sammeln, die andere weggeworfen haben, schweigt sie sich aus; statt dessen lockt ein listiger Blick ins Lexikon, wo sie zu François Millets berühmtem Gemälde „Die Kartoffelklauberinnen“ das Stichwort „Glaneurs“ definiert: jene Frauen, die auf den abgeernteten Felder das auflesen, was liegen geblieben ist, einzelne Ähren, Kartoffeln oder andere Früchte. Sekunden später sitzt man mit Varda im Fond ihres Autos Richtung d’Orsay, um das Original im Museum in Augenschein zu nehmen. Die Haltung des Auflesens fasziniert sie, eine schnelle Bilderfolge spürt ihr in der Gegenwart nach, wobei Varda ebenso wenig die Spannung zwischen der Not, die zum Bücken zwingt, und der gekränkten Selbstachtung entgeht wie die Erkenntnis, dass heutige „Sammler“ einzeln und verschämt und nicht wie auf den alten Gemälden in fröhlichen Gruppen unterwegs sind. Doch erst in Arras ist sie am Ziel: In Jules Bretons stolzer „Ährenleserin“ hat sie ein Bild für sich und ihre Profession gefunden; lediglich das Getreidebündel muss gegen die digitale Kamera getauscht werden. Es ist ein kurzer Moment der Ruhe, ein stilles Selbstporträt, das schnell wieder der Perspektive durch den Sucher weicht, die Varda mit angenehm zurückgenommener Stimme aus dem Off kommentiert. Es zieht sie südwärts, den Erntemaschinen hinterher, wo sie immer wieder auf Menschen trifft, die am Rande der Gesellschaft leben, von dem, was Bauern übrig lassen, auf dem Markt unter die Stände fällt oder als nutzlos aussortiert wird. Der Blick ins soziale Abseits, die Begegnung mit Clochards, Stadtstreichern und arbeitslosen Immigranten ist jedoch nur ein Teil des ebenso filigranen wie vielschichtigen Films, weshalb auf drückende Not unvermittelt die Begegnung mit einem Gourmet-Koch folgen kann, der die Früchte für erlesene Schnäpse lieber eigenhändig pflückt, oder ein altes Ehepaar, das einen kleinen Weinberg bestellt. Im Laufe des Jahres, das die Aufnahmen umspannen, hat Varda viele Menschen gefilmt, die aus ganz unterschiedlichen Motiven passionierte „Glaneurs“ geworden sind: Künstler wie Louis Pons oder Botan Lituansky, die ihre Bilder und Objekte aus Unrat, Schrott und alten Resten komponieren, Trödelhändler und Sperrmüll-Experten; selbst ein vergessener Filmpionier wie Etienne-Jules Marey taucht auf, der es in der Frühzeit der bewegten Bilder dem Zufall überließ, welche Gegenstände und Momente von seinem Apparat aufgezeichnet wurde. Aus den lose und wie zufällig miteinander verbundenen Details entsteht ein ungewöhnliches, „schiefes“ Bild der Gegenwart fern jeder repräsentativen Absicht, das gerade durch seinen flanierenden Charakter entlang der ausgefransten Ränder verengte Horizonte wieder weiten kann. Dass dies funktioniert, hat mit Agnès Vardas nonchalanter Filmsprache zu tun, die elegant und ohne Trübsinn von Ernsthaftem handelt. Denn was wie eine zufällige Nachlese wirkt, ist von unaufdringlichen Selbstreflexionen durchzogen, die ästhetisch-theoretische wie existenzielle Töne anklingen lassen. Der Reichtum der Bilder, die Varda mit ihrer Digitalkamera wie im Vorbeigehen „aufsammelt“, hängt mit ihrem zufälligen Charakter zusammen, mit einer „Wahrheit“, die man nicht inszenieren oder „greifen“, lediglich finden oder entdecken kann. So bemerkt Varda an einer der schönsten Stellen, in der sie eine singende Familie in den Hügeln von Apt interviewt, plötzlich, dass dies die Szene der tanzenden Gartenscheren sei, weil im Vordergrund einer damit den Takt schlägt. Von ihrer Entdeckung sichtlich fasziniert, vergisst Varda im Anschluss, die Kamera abzuschalten, was als „Tanz des Objektivdeckels“ in den Film Eingang gefunden hat: eine halbminütige ungeschnittene Szene, in der die Verschlusskappe im Rhythmus ihrer Schritte auf und ab hüpft, während aus der Ferne noch der Gesang der „Glaneurs“ zu hören ist. Sam Mendes’ Plastiktüte aus „American Beauty“ (fd 34 066) wirkt dagegen wie eine plumpe Metapher. Was den Film ebenfalls nahezu unmerklich strukturiert, ist das Motiv der Hand, die zugreift, anfasst, aufhebt, prüft oder verwirft. Während der langen Autofahrten quer durchs Land erinnerte sich Varda ihrer Kinderzeit, als sie mit einem Spiel die Langeweile vertrieb: dem Zählen der vorbeiziehenden LKWs, die man mit einer Hand greifen konnte, wenn man diese knapp vor die Augen hielt. Jetzt inszeniert sie diese Fantasie nach und verknüpft sie dezent mit dem Motiv des Filmemachens: zwei verwandte Versuche, die Welt zu be-greifen, wobei der schöne Schein sofort verflogen ist, wenn man seiner habhaft werden will. Was bleibt, ist eine leere Faust, deren Altersspuren Agnès Varda einmal auch das Grauen lehrt und daran erinnert, ein Tier zu sein, das sich nicht kennt. Doch es liegt kein Schwermut in solchen Gedanken, die wie die Wolken kommen und gehen, die Varda gelegentlich ins Bild setzt. Dieses Wissen um die Vorläufigkeit allen Tuns befreit auch von der Last letzter Worte, weshalb am Ende wiederum ein Gemälde bzw. eine vielsagende Bildinszenierung steht: Hedouins „Die Sammlerinnen auf der Flucht vor dem Gewitter“, das Varda in einem Depot aufstöbert und ins Freie tragen lässt, wo der Wind schwere Wolken übers Land treibt. Auch Schätze, die man im Vorbeigehen findet, sind nur auf Zeit gestundet.
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