Absolut Warhola

- | Deutschland 2001 | 80 Minuten

Regie: Stanislaw Mucha

Am äußersten Zipfel der Ostslowakei, nahe den Grenzen zu Polen und zur Ukraine, forscht Regisseur Stanislaw Mucha nach Spuren von Andy Warhol, dessen Vorfahren von hier stammen. Er trifft auf eine greise Urgroßtante und mehrere Vettern, die ihre besondere Sicht auf die ferne Berühmtheit und auf sich selbst darlegen. Aus dieser Korrespondenz von großer Welt und tiefster Provinz, Geschäftigkeit und Gelassenheit erwächst das besondere Klima des dokumentarischen Films, der die "Welt im Wassertropfen" sucht, wobei er seine Figuren trotz vieler skurriler und absurder Momente nie der Lächerlichkeit preisgibt. In den besten Passagen verdichtet er sich zu einer Parabel auf die Vergänglichkeit von Zeit und die Endlichkeit des Lebens. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Strandfilm
Regie
Stanislaw Mucha
Buch
Stanislaw Mucha
Kamera
Susanne Schüle
Musik
Drislak
Schnitt
Stanislaw Mucha
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Anfang der 90er-Jahre, so erzählt der umtriebige Stanislaw Mucha, habe er einmal Appetit auf ein gutes Bier gehabt. In seiner polnischen Heimat schmeckte es ihm nicht, wohl aber auf der anderen Seite der grünen Grenze, in der Slowakei, genauer: in Ruthenien. Diese Grenze war damals noch scharf bewacht, darum schlich sich Mucha im Morgengrauen mit einem Rucksack hinüber, füllte ihn in einer Gastwirtschaft mit Bierflaschen und wollte am Abend wieder zurück. Zwischendurch allerdings passierte ein Missgeschick: Die weiße Katze mit den graugrünen Augen, die er bei sich trug, um im Falle des Falles die Grenzhunde von sich abzulenken, war in den Schneebergen abhanden gekommen. Weil er Ersatz für sie brauchte und in der Kneipe keinen fand, stiefelte er in die nächstgelegene Ortschaft. So lernte er das Dörfchen Miková kennen. Selbst wenn diese Geschichte nicht wahr wäre, so ist sie doch gut erfunden – und gibt einen Vorgeschmack auf Muchas neues Kinostück. Denn auch in „Absolut Warhola“ öffnet sich ein Universum aus Wirklichkeit und Legende, und das sogar in zweifacher Weise: Zum einen streift der Film die Biografie der Popart-Ikone Andy Warhol, der immer mal wieder von sich behauptet hatte: „I’m from Nowhere“, und der sich auch sonst nicht gern auf etwas festlegen ließ. Zum anderen porträtiert „Absolut Warhola“ eine Lebenswelt am äußersten Rande Mitteleuropas, die vor skurrilen Typen und grotesken Storys nur so birst: ein Märchenland gewissermaßen, eine herbe Idylle, trotz fast hundertprozentiger Arbeitslosigkeit und ebenso hochprozentiger Trunksucht. Auch die letzten europäischen Verwandten Andy Warhols, die Mucha in Miková vor die Kamera holte, gehören zu den Meistern selbstgebrannter Schnäpse: eine 90-jährige, verschmitzte Urgroßtante und zwei Vettern dritten Grades. Mucha lässt sie nicht nur ihren „Andrijku“ hochleben und über die ferne Berühmtheit reflektieren, sondern vor allem auch über sich selbst. Aus dieser Korrespondenz von großer weiter Welt und tiefster Provinz, Geschäftigkeit und Gelassenheit erwächst das besondere Klima des hochgradig unterhaltsamen Films. Schon in der Eröffnungssequenz betont Mucha das Märchenhafte seiner Reise: Aus dem Auto heraus, mitten im Winter, drehte er erste Begegnungen mit Einheimischen, die ihm den Weg nach Miková und ins Nachbardorf Medzilaborce weisen, den Standort eines 1991 gegründeten Andy-Warhol-Museums. Auskunft geben alte Frauen und junge Männer, Slowaken und Sinti. Dass der Film dabei auch nach der „Welt im Wassertropfen“ Ausschau hält, deutet sich in einer Szene an, in der drei Greisinnen vermuten, im Auto säßen Deutsche: Sie wiegen bedenklich die Köpfe; mit Deutschen wollen sie noch immer nur ungern zu tun haben; erst als Mucha erklärt, er sei Pole, wiederholen sie, nun wesentlich lockerer, die Antwort nach dem richtigen Weg. Ähnliche unaufdringliche Indizien auf historische und gegenwärtige Animositäten, auf Widersprüche und Konflikte finden sich auch später: So beklagen sich einige Sinti, dass sie das Warhol-Museum nicht besuchen dürfen, während der Direktor des Hauses, der sonst jeden Besucher sehnlichst herbeiwünscht, pauschal darauf beharrt, erst sollten sie sich benehmen lernen, dann würde er ihnen Einlass gewähren. Auch mit der Ukraine, gleich nebenan, wollen die nationalstolzen Slowaken nicht viel zu tun haben: Sie liegt so weit außerhalb ihres Bewusstseins, dass selbst das Unglück von Tschernobyl und dessen Einfluss auf das Wachstum der einheimischen Pilze sofort verdrängt wurde. Mucha gelingt es, seine Figuren trotz mancher absurder Momente nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Man spürt: Er erhebt sich nicht über sie, degradiert sie nie zu Hinterwäldlern, sondern lässt ihnen ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge – auch auf „Andrijku“. Wenn die Tante darauf beharrt, dass der berühmte Neffe eigentlich aussehe wie ein Affe, nimmt das der Zuschauer ebenso amüsiert zur Kenntnis wie die Tatsache, dass alle Verwandten wie aus der Pistole geschossen die Homosexualität Warhols bestreiten: „Haben Sie jemals ‘so einen’ aus Mikolá gesehen? Das fehlte noch!“ Parallel zu solchen Äußerungen zeigt Mucha oft alltägliche Verrichtungen: Zu einem gleichsam allegorischen Akt, einem wahren Happening der Überlebenskunst trotz widrigster Bedingungen gerät zum Beispiel der Versuch der Tante, mit einer Art Tauchsieder Wasser zu kochen. Dass während dieser Prozedur auch noch eine Fliege um sie herumschwirrt und sie belästigt, gehört zu den Glücksmomenten dokumentarischer Filmarbeit: So sieht das pure Leben eben aus. Und Andy Warhol selbst? Gelegentlich rückt ihn der Film durch Original-Exponate des Museums ins Bild, die laut Direktorium landschaftstypisch eingekauft wurden: eine Kuh, die berühmten Fleischdosen, oder Ingrid Bergman als Nonne. Ein paar Mal lässt Mucha Warhols „ruthenischen Doppelgänger“ durch die Dörfer pilgern, zum Gaudium der Kinder, aber nicht immer zur Freude anderer Einwohner. Zu den Höhepunkten des Films gehören Motive, in denen sich die Kunst Warhols ganz direkt im ostslowakischen Alltag niederzuschlagen scheint, ohne dass es jemand merkt: Die Sammlung bunter Plastikeimer etwa, die kreuz und quer im großen Saal des Museums aufgestellt sind, um den durch das undichte Dach tropfenden Regen aufzufangen, könnte glatt als Installation des Meisters durchgehen. Dies trifft erst recht auf die bunten Vogelscheuchen zu, die Mucha auf den Äckern fand und die er im Anschluss an eine Sequenz mit Warhol-Originalen schneidet. Einmal erklingt eine zerkratzte Schellack-Platte mit Liedern, von Warhols Mutter gesungen: Dazu zeigt Mucha Jugendfotos des Künstlers und Landschaftsaufnahmen – vielleicht der schönste Moment des Films, der sich hier zu einer Parabel auf die Vergänglichkeit von Zeit, die Endlichkeit des Lebens verdichtet. Wenn Warhol einmal nicht postulierte, von „Nirgendwo“ zu stammen, erzählte er gern, er sei aus der Nähe von Hawaii. In Ruthenien hat Stanislaw Mucha entdeckt, dass das Nachbardorf von Mikolá tatsächlich Hawaj heißt. Manche Legenden bergen eben doch eine tiefe Wahrheit.
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