Große Diebe, kleine Diebe

Tragikomödie | Venezuela/Deutschland/USA 1998 | 99 Minuten

Regie: Alejandro Saderman

Vier brave venezuelanische Bürger planen einen Bankraub, weil sie nicht wissen, wie sie angesichts der Wirtschaftskrise ihren Lebensstandard aufrecht erhalten sollen. Als sie ihren Coup in die Tat umsetzen wollen, müssen sie feststellen, dass die Buchhalter der staatlichen Bank schon ganze Arbeit geleistet und die Konten leer geräumt haben. Eine düstere, mit Ironie und Sympathie für die verarmende Mittelklasse Lateinamerikas inszenierte Schelmenkomödie, die ihre universelle Geschichte als volkstümliches Lehrstück erzählt, oszillierend zwischen heiteren und rührenden Momenten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CIEN ANOS DE PERDON
Produktionsland
Venezuela/Deutschland/USA
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Alejandro Saderman Prod./Cinemateriales/Lichtblick//Post House/TNT América Latina
Regie
Alejandro Saderman
Buch
Carlos Gonzáles · Henry Herrera · Alejandro Saderman · Luis Zelkowicz
Kamera
Hernán Toro
Musik
Julio d'Escriván
Schnitt
Giuliano Ferrioli
Darsteller
Orlando Urdaneta (Horacio) · Mariano Alvarez (Vincente) · Daniel Lugo (Valmore) · Elluz Peraza (Lucia) · Basilio Alvarez (Taxista)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion
Zur Einleitung erklingt soziale Volksweisheit, vorgetragen zu schwungvollen Salsa-Rhythmen: „Wer einen Dieb bestiehlt, verdient 100 Jahre Vergebung“, besagt ein altes venezuelanisches Sprichwort, und insbesondere zur Weihnachtszeit häufen sich große und kleine Diebstähle. Rogelio kommt mit seiner Familie im Taxi vom Ausflug zurück, weil ihnen der Wagen gestohlen wurde. In der Nachbarschaft sieht man Gewinner und Verlierer der Wirtschaftskrise; das Land leidet unter einer schwere Bankenkrise, die Millionen um ihre Ersparnisse fürchten lässt. Unter ihnen auch die vier Protagonisten des Films, Vertreter der absteigenden Mittelschicht: Valmore, dem ebenfalls das Auto geklaut wurde, Vincente, der mit hohen Krankenhausrechnungen kämpft, Rogelio, der um sein Erspartes bangt und Horacio, der nicht weiß, wie der seiner Ex-Frau den Unterhalt bezahlen soll. Daher haben sie in der Vorweihnachtszeit das perfekte Verbrechen geplant: Sie wollen die transamerikanische Bank ausrauben – elegant und ohne Gewalt. Skrupel plagen sie keine, weil die Banken als die größten Diebe des Landes gelten. „Cien años de perdon“ charakterisiert mit Ironie und Sympathie die Vertreter einer Mittelschicht, denen das Wasser bis zum Halse reicht. Seine Figuren könnten auch aus einer „telenovela“ stammen und haben nur wenig mit den bekannten Klischees lateinamerikanischer Sozialromantik zu tun. Statt Bettlern und dem Elend verarmter Vorstädte handelt es sich hier um verarmte Neureiche, Sozialrebellen mit Eigenheim am Ende des Traums vom freien Markt. Das macht die Geschichte universell; sie könnte problemlos auch in Buenos Aires oder Mexiko-City spielen. Der Film entwickelt die bekannten Stereotypen geschickt vor ihrem sozialen Hintergrund und vermittelt seine Gesellschaftskritik über Identifikation, nicht über die Präsentation von Armut und Elend. Während der Weihnachtsfeier laden die vier ihren Coup: Als Inspektoren der staatlichen Bankenaufsicht verkleidet, überzeugen sie das Wachpersonal mit harschem Auftreten und falschen Papieren. Alles scheint bestens zu funktionieren. Bis auf den Umstand, dass der Tresorraum bereits leergeräumt ist und in den Büros Buchhalter noch zugange sind, die Bilanzen zu manipulieren und ihre Spuren zu verwischen. Ganz nach Brecht, demzufolge eine Bank eröffnen einträglicher sei als eine auszurauben, sind die großen Diebe den kleinen ein gutes Stück voraus: die gesamten Geldbestände und auch die millionenschweren staatlichen Stützungskredite wurden illegal ins Ausland transferiert. Fassungslos versäumt das Quartett den richtigen Moment zur Flucht; am frühen Morgen eskaliert die Situation mit Geiselnahme und einer schwarzen Parodie auf amerikanischer Gangsterfilme. Der wichtigsten Trumpf aber ist eine Liste mit allen Namen, die am illegalen Geldtransfer beteiligt waren – vom Bankdirektor bis zum Innenminister. Als sich die Geiseln mit ihren Entführern zu solidarisieren beginnen und die Regierung langsam nervös wird, droht die Situation außer Kontrolle zu geraten. „Große Diebe, kleine Diebe“ ist eine universelle Geschichte, ein Film über soziale Spannung und Korruption, ein volkstümliches Lehrstück, das als routinierte Komödie zwischen rührenden und heiteren Momenten erzählt wird. Regisseur Alejandro Sadermann wurde in Argentinien geboren, arbeitete lange in Italien, dann in Kuba für das staatliche Filminstitut ICAIC und schließlich in Venezuela. Dementsprechend lassen sich Einflüsse von der italienischen Komödie, vom skurrilen schwarzen Humor kubanischer Gesellschaftskritik und besonders von venezuelanischen „telenovela“ leicht nachweisen. Dabei vermittelt der Film eine schwungvolle, manchmal hastige Fröhlichkeit zwischen sozialkritischer, sarkastischer Schelmenkomödie und der ergreifenden Oberflächlichkeit lateinamerikanischer Fernsehmelodramen: Sozialkritik zum Mittanzen.
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