- | Iran 2001 | 94 Minuten

Regie: Majid Majidi

Als ein illegaler afghanischer Arbeiter im Iran vom Gerüst stürzt, schickt er seinen Sohn zur Baustelle, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Aber der Junge aber sich als schwach und soll Küchendienste verrichten, was ihm die Feindschaft seines Vorgängers einbringt. Erst als dieser entdeckt, dass es sich bei seinem Rivalen in Wirklichkeit um ein Mädchen handelt, beginnt er sich zu wandeln. Die einfach strukturierte universelle Geschichte einer Initiation beleuchtet sozial genau die Lebensbedingungen afghanischer Flüchtlinge im Iran. Ein Film voller naturalistischer, aber auch poetischer Bilder, der ohne Melodramatik von Solidarität und Hoffnung erzählt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BARAN
Produktionsland
Iran
Produktionsjahr
2001
Regie
Majid Majidi
Buch
Majid Majidi
Kamera
Mohammad Davudi
Musik
Ahmad Pezhman
Schnitt
Hassan Hassandoost
Darsteller
Hossein Abedini (Latif) · Zahra Bahrami (Rahmat/Baran) · Mohammad Amir Naji (Memar) · Hossein Mahjoub (Händler) · Abbas Rahimi (Soltan)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Zu Beginn des Films teilt ein Insert lakonisch mit, dass zu Zeiten der Taliban-Herrschaft rund 1,5 Millionen afghanischer Bürger in den Iran flüchteten. Eine nackte Zahl, die für Fluchtbewegungen in vielen Gegenden der Erde stehen könnte und den „satten“ Teil der Weltbevölkerung nur bedingt anzurühren vermag. Anders ist es, wenn konkrete Schicksale geografisch und sozial beleuchtet werden – wie in „Baran“ von Majid Majidi, der nach „Kinder des Himmels“ (fd 33 838) und „Die Farben des Paradieses“ (fd 34 774) dritten Arbeit des iranischen Regisseurs, die in deutsche Kinos gelangt. Zum Figurenensemble des Films gehört ein afghanischer Maurer, dessen Frau nicht mehr lebt und der mit seinen fünf Kindern über die Grenze in den Iran kam. Dieser Najaf verdingt sich wie viele seiner Landsleute verbotener Weise auf einer Baustelle: besitz- und rechtlos, gejagt von den Kontrolleuren der iranischen Arbeitsbehörden. Als Najaf von einem Gerüst stürzt und sich dabei schwer verletzt, scheint das Los seine Familie entschieden: ein Vegetieren in tiefster Not. Aber Majidi geht es nicht um eine Elendsstudie, sondern um ein Gleichnis für Hilfsbereitschaft und Hoffnung. So wählt er eine andere Hauptfigur als den außer Kraft gesetzten Najaf: nämlich den 17-jährigen iranischen Hilfsarbeiter Latif, der als Großmaul und Hansdampf in die Handlung eingeführt wird. Er ist für die Versorgung der Arbeiter zuständig, holt Fladenbrot, kocht Tee und wäscht Geschirr. Latif ist auf den ersten Blick nicht unbedingt sympathisch: ein aufbrausender Kindskopf, schnell zu Prügeleien und Stänkereien bereit; den Unfall Najafs kommentiert er mit den dümmlich-sarkastischen Worten „Er hatte wohl keinen Fallschirm dabei!“ Als Najaf seinen ältesten Sohn Rahmat zur Baustelle schickt, damit dieser an seiner Stelle den Unterhalt für die Familie verdient, fühlt sich Latif in seiner Stellung bedroht. Denn Rahmat, dessen körperliche Schwäche unübersehbar ist, wird durch den Vorarbeiter sowohl vom Schleppen der Zementsäcke als auch vom Mauern befreit und mit Latifs Küchenarbeit betraut. Dafür muss dieser nun die schweren Tätigkeiten verrichten – Grund genug, mit allen Mitteln gegen Rahmat zu intrigieren. Die Wandlung Latifs, sein moralischer Lernprozess, hat dann mit einer Entdeckung zu tun. Zufällig beobachtet er, wie sich Rahmat den Kopfschutz abnimmt – und erkennt, was er vorher nur geahnt haben mag: Rahmat ist kein Junge, sondern ein Mädchen mit langem, schönem Haar. Er verliebt sich und verhält sich von jetzt an genauso merkwürdig und ungeschickt wie nahezu jeder Junge, dem dies zum ersten Mal widerfährt. Majidi führt den Film aus dem grauen, tristen Naturalismus, mit dem er die Baustelle zeichnete, nun zu poetischeren Tönen und gestattet sich sogar komische Momente: wenn Latif Zementsäcke jetzt in seinem besten, knallroten Hemd schleppt. „Baran“ lebt von atmosphärischen Bildern, die ohne sentimentale, melodramatische Steigerung auskommen und in ihrer Sachlichkeit und Präzision an Klassiker des italienischen Neorealismus erinnern. Auch die Haltung Majidis, keine Figur zu denunzieren und ihre Handlungen mit wenigen Strichen auf die Ursachen hin zu erforschen, erinnert an frühe Arbeiten etwa Vittorio de Sicas. Weshalb zum Beispiel der Vorarbeiter ständig überreizt und unwirsch wirkt, zeigt sich bei Besuchen der ihm vorgesetzten Bauleiter, denen er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Als Latif ihn anfleht, ihm seinen in den letzten zwölf Monaten verdienten, aber vom Vorarbeiter einbehaltenen Lohn auszuzahlen, lässt er sich von den Tränen des Jungen erweichen und beweist Herz. Ein ebensolches hatte er, ohne dass Latif das bewusst war, auch schon zuvor bewiesen, als er das Geld aufbewahrte: Latifs Vater hatte ihn ausdrücklich darum gebeten. Auch später gibt es Nebenfiguren, die etwas scheinbar Unrechtes tun: Wie jener afghanische Mann, den Latif bittet, sein Geld an Najafs Familie auszuhändigen, der damit aber heimlich in die Heimat zurückkehrt. Doch der Brief, den er dem Jungen hinterlässt, signalisiert trotz allem eine Grundehrlichkeit: „Ich schwöre bei Allah, dass ich Dir das Geld zurückgeben werde.“ Aus Latif wird im Laufe der einfach strukturierten Handlung schließlich ein „guter Mensch“. Er füttert nicht nur die Tauben, so wie er das von Baran gesehen hatte; er greift auch seine letzten Sparreserven an, um Krücken für den lahmen Najif herstellen zu lassen. Naiv und zugleich voller Zuversicht, Najifs Familie helfen zu können, verkauft er sogar seine Identitätskarte. Mit diesem Akt, der in einer bürokratisierten Welt das Aus bedeuten kann, stellt Majidi seinen Helden im Prinzip auf die gleiche Stufe wie die „Fremden“. Erst jetzt gestattet der Regisseur dem Jungen eine Szene, in dem dieser dem Mädchen „offiziell“ in die Augen blicken darf. Vorher hatte Latif es immer nur heimlich beobachtet, etwa bei der Schwerarbeit am Fluss. Doch auf die Suggestion der erreichten „Gleichheit“ folgt kein Happy-End: Najifs Familie bricht wieder nach Afghanistan auf. Und wenn Baran den Schleier vors Gesicht zieht, den sie im Iran nicht tragen musste, verstärkt Majidi das damit verbundene Geräusch so sehr, dass es wie ein Peitschenhieb klingt. Der in einer kalt-nassen Winterlandschaft spielende Film endet mit dem Bild eines leeren Flüchtlingslagers und dem Fußabdruck des Mädchens im Schlamm. Bald wird ihn der Regen beseitigt haben. Fügt sich „Baran“ also der totalen Hilflosigkeit gegenüber dem Schicksal? Oberflächliche Beobachter mögen das so interpretieren. Dagegen aber sprechen die Spuren, die das Mädchen in der Seele des Jungen hinterließ. Das letzte, scheue, unvergessliche Lächeln vor dem Abschied. Majidi hat einen ebenso konkreten wie universellen Film geschaffen, dessen Schönheit aus seiner Einfachheit resultiert.
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